Auf der Großen Moskwa-Brücke, wo vor genau sieben Jahren Boris Nemzow erschossen wurde, durfte man sich am Sonntag nur kurz aufhalten.

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Fjodor hat es eilig an diesem Sonntag. Er ist auf dem Weg zur Großen Moskwa-Brücke, direkt hinter den Kreml-Mauern. Er selbst nennt sie "Nemzow-Brücke", denn vor sieben Jahren wurde hier der Oppositionspolitiker Boris Nemzow erschossen. Die Täter sitzen hinter Gittern, die Auftraggeber hingegen sind bis heute frei. Viele vermuten, dass Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow dahintersteckt, der sich erst vor Tagen damit brüstete, 12.000 eigene Soldaten in die Ukraine geschickt zu haben.

So geht es für Fjodor auch nicht nur um das Gedenken an Nemzow. Neben den vier weißen Rosen für den Ermordeten trägt er ein blau-gelbes Band am Revers seiner grauen Tweedjacke. Die Nationalfarben der Ukraine.

Nach Angaben von Ilja Jaschin, einem der engsten Vertrauten Nemzows, hat die Stadtverwaltung mit Blick auf die aktuellen Ereignisse eine Gedenkveranstaltung untersagt. Zunächst sei die traditionelle Aktion der Blumenniederlegung erlaubt worden, doch am 24. Februar, dem Tag des russischen Einmarschs in der Ukraine, hätten die Beamten ihn "im privaten Gespräch" gewarnt, dass jegliche Antikriegsproteste im Keim erstickt würden, berichtet der Oppositionspolitiker.

Weiträumig abgesperrt

Fjodor fürchtet sich trotzdem nicht. "Wovor sollte ich Angst haben", sagt der 24-Jährige. Er tue nichts Kriminelles. "Mir macht mehr Sorge, dass Putin übergeschnappt ist und uns in eine politische Sackgasse führt", fügt er hinzu. Um an der Macht zu bleiben, sei dieser sogar bereit, einen Krieg gegen die Ukraine zu führen.

Trotz der Drohungen, trotz der Festnahmen in den vergangenen Tagen sind an diesem sonnigen Sonntag Tausende zur Brücke gekommen. Es ist ein ständiger Strom. Die Polizei hat das Gebiet weiträumig abgesperrt und kontrolliert alle Besucher am Eingang der Brücke. Aber sie lässt die Menschen passieren. Nur stehenbleiben sollen die Bürger nicht. "Nach dem Ablegen der Blumen gehen Sie weiter ans andere Ende der Brücke Richtung Metrostation Tretjakowskaja", dröhnt ein untersetzter Uniformierter ins Megafon.

Kurz darauf nimmt die Polizei an der Nemzow-Brücke erste Demonstranten fest, auch anderenorts greift sie hart durch. An mehreren Plätzen im Stadtzentrum führt sie Demonstranten ab. Russlandweit werden am Sonntag bis zum frühen Abend 1.500 Menschen festgenommen, allein in Moskau mehr als 700.

Petitionen und Appelle

Tatsächlich haben in den letzten Tagen immer mehr Menschen in Russland ihre Stimme erhoben. Nicht auf den Demos, die sind weiterhin ein Randphänomen, auch weil das Versammlungsrecht jahrelang systematisch eingeschränkt wurde. Doch die Russen nutzen andere Kanäle. Dutzende Interessenverbände von Ärzten, Lehrern, Künstlern, aber auch Modeschöpfern, Architekten, IT-lern und sogar über 200 städtische Abgeordnete aus den verschiedensten Regionen haben Appelle zur Einstellung der Kriegshandlungen lanciert.

Es deutet sich selbst innerhalb der politischen Elite eine Spaltung an: Die Duma-Abgeordneten Oleg Smolin und Michail Matwejew hatten in der vergangenen Woche noch für die Anerkennung der Separatisten gestimmt. Nun die Kehrtwende: Beide beklagten den Krieg. "Ich habe für den Frieden gestimmt und nicht für Krieg. Dafür, dass Russland zum Schild werde, damit der Donbass nicht mehr bombardiert wird, aber nicht dafür, dass Kiew bombardiert wird", argumentierte Matwejew. Sogar die Tochter des Kremlsprechers Dmitri Peskow, Elisaweta, postete "Nein zum Krieg".

Verhandlungen

Selbst erste Oligarchen gehen auf Distanz zum Regime: Alfabank-Besitzer Michail Fridmann rief in einem Brief an seine Mitarbeiter dazu auf, das Blutvergießen in der Ukraine zu beenden. Selbst der seit Jahren wegen seiner Kremlnähe von Sanktionen geplagte Milliardär Oleg Deripaska schrieb nun, dass der Frieden "sehr wichtig" sei. "Die Verhandlungen müssen so schnell wie möglich beginnen."

Dass sich Russland am Sonntag laut ukrainischen Quellen nun erstmals ohne Vorbedingungen zu Verhandlungen bereitfand, ist ein Indiz, dass der Druck gestiegen ist. Mit jedem Tag, den der Krieg dauert, droht die Einigkeit im russischen Führungszirkel zu schwinden.

Doch zugleich steigen die schrillen Töne. Abweichlern drohen Konsequenzen. Kommunistenführer Gennadi Sjuganow rief die abtrünnigen Abgeordneten zur aus Stalinzeiten bekannten Selbstkritik auf. Ex-Präsident Dmitri Medwedew drohte, dass Russland als Reaktion auf die Sanktionen das Vermögen von Ausländern und ausländischen Konzernen beschlagnahmen, Abrüstungsverträge brechen und die Todesstrafe wiedereinführen könne. Wladimir Putin wiederum versetzte die Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft, um dem Westen weiter zu drohen. (André Ballin aus Moskau, 27.2.2022)