Aus Angst vor einem atomaren Ernstfall decken sich derzeit einige mit Kalium-Jodid-Tabletten ein. Das ist im Zweifelsfall aber eher schädlich als nützlich.

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Ein atomarer Ernstfall steht im Raum. Bereits vergangene Woche wurde rund um das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl erhöhte Radioaktivität gemessen, aufgrund der aktuellen Entwicklungen wird nun sogar die Möglichkeit eines Atomschlags diskutiert. In den sozialen Medien wird deshalb über die prophylaktische Einnahme von Kalium-Jodid-Tabletten diskutiert, um die Schilddrüse vor atomarer Strahlung und damit vor Schilddrüsenkrebs zu schützen. In den Wiener Apotheken soll es schon zu Engpässen kommen, weil es Vorratskäufe gebe. Dabei schützen die Tabletten im Ernstfall gar nicht.

Kalium-Jodid-Tabletten sollen die Schilddrüse davor bewahren, radioaktive Strahlung aufzunehmen, erklärt Franz Kainberger, Professor für Radiologie an der Med-Uni Wien: "Die Schilddrüse benötigt Jod als Grundstoff für die Produktion von Schilddrüsenhormonen, man nimmt es über die Nahrung auf. Bei einem Atomunfall kann radioaktives Jod freigesetzt werden, es gleicht chemisch und biologisch dem nicht radioaktiven, der Körper kann es nicht unterschieden. Deshalb kann es sich in der Schilddrüse anreichern, im schlimmsten Fall kann es dort Krebs verursachen."

Das Ziel von Kalium-Jodid-Tabletten ist, so viel Jod in der Schilddrüse anzureichern, dass kein radioaktives mehr aufgenommen werden kann – damit ist die Gefahr von strahlenbedingtem Schilddrüsenkrebs gebannt.

Bestens ausgebautes Strahlenfrühwarnsystem

Kainberger warnt allerdings davor, dieses landläufig als Jodtabletten bekannte Medikament eigenständig einzunehmen: "Sie haben bei Verstrahlungsgefahr nur einen vergleichsweise geringen Effekt. Allerdings können sie bei Menschen mit einer Schilddrüsenüberfunktion diese sogar noch verstärken und so gesundheitliche Probleme auslösen." Das sind etwa Unruhe, Nervosität, Stimmungsschwankungen, verstärktes Schwitzen, Augenkrankheiten oder auch Potenz- und Fruchtbarkeitsprobleme.

Alle, die wissen, dass sie eine Überfunktion haben, können entsprechend dosieren, aber Kainberger betont: "Viele wissen das gar nicht. Und im Zweifelsfall kann man sogar eine Überfunktion auslösen, wenn man die Schilddrüse mit Jod vollpumpt."

Es ist auch gar nicht nötig, Jod vorsorglich einzunehmen, denn: "Österreich hat seit vielen Jahren ein exzellent ausgebautes Strahlenfrühwarnsystem und ist außerdem mit den europäischen und weltweiten Warnsystemen bestens verbunden. Sobald eine erhöhte Strahlengefahr besteht oder radioaktiv gefährliche Wolken hierher unterwegs sind, weiß man das."

Sowohl Kainberger als auch die Apothekerkammer raten deshalb dringend dazu, Kalium-Jodid-Tabletten nur nach ausdrücklicher Aufforderung durch die Gesundheitsbehörden einzunehmen. Kainberger betont außerdem, dass "man heute einen Knoten in der Schilddrüse durch eine Ultraschalluntersuchung bereits entdecken kann, wenn er nur zwei oder drei Millimeter groß ist. Dann kann man den Knoten mit Medikamenten behandeln oder operativ entfernen." Auch nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl konnten fast alle Betroffenen – großteils Kinder – geheilt werden.

Im Ernstfall drinnen bleiben

Aber was soll man tun, wenn es tatsächlich zu einer radioaktiven Verstrahlung kommen sollte? Der Atombunker in Tschernobyl sollte kein Problem sein, die dort gemessene angestiegene Strahlung ist auf aufgewirbelten Staub zurückzuführen. Doch natürlich gibt es auch andere Atomkraftwerke in der Ukraine, und Russland droht aktuell auch mit seinen Atomwaffen.

Kainberger rät im Akutfall: "Bleiben Sie ein paar Tage im Inneren der Gebäude, und kleben Sie Fenster, sofern sie undicht sind, mit einem breiten Klebeband ab." All das gilt besonders dann, wenn das Wetter regnerisch sein sollte. Denn tatsächlich kommt die radioaktive Strahlung erst bei Regen zu Boden, bei Schönwetter ist sie keine Gefahr.

Der Radiologe erklärt: "Dort, wo die Strahlung entsteht, wird sie in mittelhohe Luftschichten hinaufgetragen und dann mit dem Wind verblasen. Solange sie da oben ist, wird sie für niemanden gefährlich. Erst bei Regen kommt es zum sogenannten Fall-out." Und dieser geht eben nicht durch Mauern oder dichte Fenster durch.

Aufgenommen wird das radioaktive Material in erster Linie in Staub und Sand. Am wenigsten davon bleibt auf versiegelten, asphaltierten und betonierten Bodenflächen zurück, da würde es in die Kanalisation abrinnen. Im normalen Erdboden wird die radioaktive Strahlung mittelstark aufgenommen, von dort geht sie hauptsächlich in speichernde Pflanzen wie Pilze über. In Gemüse und anderen Nahrungsmitteln ist sie weniger zu finden.

Wer zusätzlich auf Nummer sicher gehen will, hält zu Hause Lebensmittel für einige Tage vorrätig. Diese Schutzmaßnahmen gelten übrigens auch bei einem gezielten Atomschlag, wobei es dann auch darauf ankommt, wie stark die Atomwaffe ist und wo sie niedergeht. Wäre etwa die Ukraine das Ziel, wären die Auswirkungen hier ähnlich wie bei einem Atomunfall und die Schutzmaßnahmen die gleichen. (Pia Kruckenhauser, 28.2.2022)