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Mit Demonstrantinnen und Demonstranten wird nicht zimperlich verfahren. Etliche Studierende wurden in den letzten Tagen verhaftet, ebenso wie akademisches Lehrpersonal.

Foto: AP/Dimitri Lovetsky

Der offene Brief russischer Forschender und russischer Wissenschaftjournalistinnen und -journalisten lässt keine Zweifel offen: "Wir protestieren nachdrücklich gegen die von den Streitkräften unseres Landes eingeleitete Militäraktion auf dem Gebiet der Ukraine. Dieser fatale Schritt führt zu enormen Verlusten an Menschenleben und untergräbt die Grundlagen des etablierten Systems der internationalen Sicherheit."

Binnen 24 Stunden unterzeichneten knapp 400 Forschende den offenen Brief, in dem die wissenschaftliche Gemeinschaft den russischen Angriff auf die Ukraine scharf verurteilt. Inzwischen sind es fast 5.000. Der Krieg bedeute, "dass wir Wissenschafter nicht mehr in der Lage sein werden, unsere Arbeit richtig zu machen: Wissenschaftliche Forschung ist ohne eine umfassende Zusammenarbeit mit Kollegen aus anderen Ländern nicht denkbar. Die Isolierung Russlands von der Welt bedeutet eine weitere kulturelle und technologische Degradierung unseres Landes, die keine positiven Perspektiven bietet."

"Lassen Sie uns Wissenschaft betreiben, nicht Krieg!"

Die Unterzeichnenden schließen mit einem deutlichen Aufruf: "Ein Krieg mit der Ukraine ist ein Schritt ins Nirgendwo. Wir fordern die sofortige Einstellung aller Militäraktionen gegen die Ukraine. Wir fordern die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität des ukrainischen Staates. Wir fordern Frieden für unsere Länder. Lassen Sie uns Wissenschaft betreiben, nicht Krieg!"

Viele der Wissenschafterinnen und Wissenschafter sind Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften, die seit ihrer Gründung 1724 zur renommiertesten Forschungseinrichtung der Russischen Föderation aufstieg. Einige der Unterzeichnenden haben ihre Gedanken wie auch Befürchtungen mit dem STANDARD geteilt.

Keine Angst, gegen Krieg aufzutreten

Medial wurde der Bioinformatiker Mikhail Gelfand als Initiator des offenen Briefs gehandelt. Das sei allerdings ein Irrtum, stellt der am Skolkovo-Institut für Wissenschaft und Technologie in Moskau Forschende fest. "Es war nicht meine alleinige Initiative, sondern ein kollektives Anliegen und ein gemeinsamer Schritt der wissenschaftlichen Gemeinschaft in Russland."

Aktuell gehe er seiner Lehrtätigkeit, so gut es gehe, nach, es sei allerdings schwierig, sich zu konzentrieren. Immer wieder würden Studierende bei Demonstrationen verhaftet, einer seiner Kollegen habe die Nacht in Polizeigewahrsam verbracht. Wenn es sich um den ersten Verstoß handle, hielten sich die Strafen im Rahmen, erklärt Gelfand. Man müsse mit einer oder mehreren Nächten im Gefängnis oder mit Geldstrafen rechnen. Ob auch er durch seine Unterschrift unter dem offenen Brief in Gefahr geraten könnte? "Das wird die Zeit zeigen", antwortet Gelfand.

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"Der Krieg gegen die Ukraine ist eine Schande und ein Verbrechen", wie diese Demonstrantin auf ihrem Plakat zum Ausdruck bringt.
Foto: AP/Evgeniy Sofiychuk

"Ich habe den Brief unterzeichnet um zu zeigen, dass Wissenschafter und Regierung nicht dasselbe sind", schreibt er. Auch sei ihm wichtig, ein Gefühl der Gemeinschaft zu vermitteln. Nicht zuletzt, "um unseren westlichen und vor allem ukrainischen Kollegen zu zeigen, dass es in Russland viele Wissenschafter gibt, die gegen den Krieg sind und keine Angst haben, das zu sagen." Niemals habe er mit einer Invasion der Ukraine durch sein Land gerechnet.

"Ich denke, wahre Wissenschafter sollten sich für ihre Kollegen einsetzen." Bioinformatiker Mikhail Gelfand

Einschnitte in der Forschung

Die russische Invasion wird wohl auch Forschungsbemühungen um Jahre zurückwerfen. Denn die westlichen Sanktionen treffen auch die Wissenschaft: "Gemeinsame Projekte mit experimentellen Biologen werden ins Stocken geraten, da es kurzfristig keine notwendigen Materialien und langfristig auch keine Geräte geben wird", erklärt Gelfand.

Mikhail Gelfand lehrt und forscht am Moskauer Skolkovo-Institut für Wissenschaft und Technologie.
Foto: Grace

Mehrere wissenschaftliche Gesellschaften, Ministerien, Universitäten und Zeitschriften haben zudem den vollständigen Abbruch aller Kontakte zu russischen Forschenden angekündigt. Eine Reaktion, die Gelfand nicht ganz nachvollziehen kann. "Ich finde das unfair und kurzsichtig." Seines Erachtens sei es wichtig, zwischen der wissenschaftlichen Gemeinschaft und der Regierung zu unterscheiden. Zumal Forschende die Ersten gewesen seien, die einen offenen Brief unterzeichneten, in dem sie die sofortige Beendigung des Krieges und den Abzug der russischen Truppen forderten, erklärt der Bioinformatiker.

Daher würden die vorgeschlagenen Maßnahmen genau diejenigen bestrafen, die – zumindest mit einem gewissen Risiko für ihre Karriere – versucht haben, den Krieg zu beenden. "Außerdem würden diese Maßnahmen das repressive Regime nur stärken – das ist kurzsichtig." Er ruft internationale Wissenschafterinnen und Wissenschafter auf, sich für die Zusammenarbeit mit ihren russischen Kolleginnen und Kollegen einzusetzen. Zwar verstehe er Ressentiments und Sicherheitsbedenken, "aber statt pauschaler Maßnahmen sollte jede Zusammenarbeit oder Person einzeln betrachtet werden", sagt Gelfand.

Schreckliche Zäsur

Knappe und klare Worte findet der Physiker Alexander Belavin. Die Situation betrachte er als absolut schrecklich. "Ich persönlich bin, wie viele andere Kollegen auch, gegen diese sogenannte spezielle Militäroperation." Damit sei alles gesagt, den Worten aus dem offenen Brief habe er nichts mehr hinzuzufügen.

Aus Nowosibirsk meldet sich Alexander Bondar. Der Mitarbeiter des Instituts für Kernphysik der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften erforscht die Physik der Elementarteilchen. In diesem Zusammenhang ist er an zwei großen internationalen Kollaborationen beteiligt: am Cern, der Europäischen Organisation für Kernforschung, und am japanischen Forschungszentrum für Teilchenphysik Kek.

Den offene Brief habe er unterzeichnet, weil dieser sein persönliche Einstellung zu den tragischen Ereignissen in der Ukraine widerspiegle. "Es war mir wichtig, öffentlich meine Ablehnung von Militäraktionen zu erklären und zu zeigen, dass nicht alle Bürger der Russischen Föderation diese spezielle Entscheidung des Präsidenten unterstützen", schreibt Bondar. Negative Konsequenzen für sich könne er nicht ausschließen. "Allerdings scheint mir, dass ich in der jetzigen Situation nicht anders hätte handeln können."

Angst um ukrainische Forschende

Auch er befürchtet durch die Sanktionen negative Auswirkungen auf die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit. "Gerade auf dem Gebiet der Hochenergiephysik ist die internationale Forschungskooperation von großer Bedeutung", erklärt Bondar.

Aktuell gelte seine weitaus größere Sorge jedoch seinen ukrainischen Kolleginnen und Kollegen. "Als wir Mitte der neunziger Jahre in Japan einen experimentellen Aufbau für den Detektor Belle erstellten, arbeiteten wir eng mit Kollegen vom Kharkov Institute of Single Crystals zusammen", erinnert er sich. Ohne deren Beteiligung wären wichtige Schritte in der Forschung unmöglich gewesen. "Ich mache mir große Sorgen darüber, wie es ihnen jetzt in Charkow geht, wo direkt in der Stadt gekämpft wird." (Marlene Erhart, 28.2.2022)