Repressionswelle in ganz Russland: Mit brutaler Polizeigewalt wurden friedliche Demonstrationen gegen den Krieg in der Ukraine aufgelöst, etwa am Sonntag in St. Petersburg...

Foto: imago images/NurPhoto

... oder am vergangenen Donnerstag in Moskau

Foto: imago images/NurPhoto

Der brutale Krieg gegen die Ukraine, den Wladimir Putin ohne Zwang losgebrochen hat, hat die russische und ukrainische Kulturszene kalt erwischt. Die Auswirkungen unterscheiden sich freilich drastisch: In der Ukraine droht die totale Zerstörung. Das denkende und kritische Russland ist indes auf dem Weg in die völlige Dunkelheit. Die beginnenden Sperren sozialer Netzwerke, ein mögliches Kappen von Internetverbindungen und die wahrscheinliche Zerschlagung der letzten freien Medien dürften bereits in den nächsten Wochen dazu führen, dass die Sichtbarkeit kritischer Aktivitäten und Reflexionen drastisch eingeschränkt wird.

Zudem ist davon auszugehen, dass Repressionswellen viele im Land verstummen lassen. Ein Berufungsgericht in Moskau hat am Montag die Auflösung der traditionsreichsten russischen Menschenrechtsorganisation Memorialendgültig besiegelt. Freilich, die von der NGO forcierte mahnende Erinnerung an die Verbrechen des Stalinismus verliert ihre Bedeutung, wenn Putin jederzeit einen neuen "Großen Terror" anordnen könnte. Derzeit wird niemand ihn daran hindern können.

Nicht vorhergesehene Katastrophe

Die Katastrophe konkret kommen sehen hatten in der russischen Szene nur wenige. Selbst Anfang vergangener Woche, vor Kriegsbeginn, aber bereits nach Russlands Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine, hatten viele noch geglaubt, dass alles irgendwie weitergehen und auch der internationale Austausch weiterlaufen werde. Die kriegstreiberische Propaganda im russischen Staatsfernsehen war von den Künstlerinnen und Künstlern tendenziell als nicht seriös und nicht beachtenswert eingeschätzt worden.

Genau einen Monat vor Kriegsbeginn hatte sich der Kaliningrader Künstler und Kurator Dmitri Bulatow, er gilt als einer der wichtigsten Experten für Science-Art in seinem Heimatland, als einer der Ersten in einem offenen Brief an Freunde in der Ukraine gewandt: "Ihr müsst wissen, dass die überwiegende Anzahl meiner Bekannten im Kunstbetrieb nicht nur gegen ein derartig aggressives Verhalten ist, sondern es auch scharf verurteilt", schrieb er. Eine einheitliche westliche Reaktion könnte die Machthabenden von einem Krieg gegen die Ukraine abhalten, hoffte der Künstler.

"Sofortiger Rücktritt von Wladimir Putin"

Bulatow hat nun auch eine der schärfsten Erklärungen der russischen Kunstszene unterzeichnet, die vom prominenten Moskauer Kurator Andrej Jerofejew initiiert wurde. Es reiche nicht, "Kein Krieg!" zu proklamieren. "Wir treten für einen sofortigen Rücktritt von Wladimir Putin als Präsident der Russischen Föderation ein: Geht Putin, hört der Krieg auf. Bleibt Putin, geht die Abschlachterei weiter", heißt es. Die Reaktion eines denunzierenden Telegram-Kanals legte bereits am Freitag nahe, dass Mitunterzeichnern im besten Fall der Verlust ihres Arbeitsplatzes droht. Nicht mehr auszuschließen ist jedoch auch, dass der harte Kern der Moskauer und Petersburger Kunst für diese Geste im Gefängnis landen könnte. Viele russische Künstlerinnen haben sich in den letzten Tagen an illegalen Demonstrationen beteiligt.

Eher verhalten reagierten Kunstinstitutionen: Private Vorzeigeinstitutionen wie das von Milliardär Roman Abramowitsch und seiner Ex-Gattin Darja Schukowa betriebene Kunstmuseum Garage sperren einstweilen zu oder schließen wie Strelka, ein renommiertes Designinstitut, das mit dem Milliardär Alexander Mamut in Verbindung gebracht wird.

Der vom Superreichen Leonid Michelson finanzierte neue Kunsttempel GES-2 in Moskau, dessen Direktorin nach einem Besuch Putins Ende 2021 abgesetzt worden war, hat einstweilen lediglich seine Hauptattraktion eingebüßt: Der Isländer Ragnar Kjartansson beendete mit Kriegsbeginn seine Langzeitperformance zu den russischen 1990ern. Staatliche Museen setzen indes auf Dienst nach Vorschrift: Das Puschkin-Museum in Moskau hat etwa angekündigt, einstweilen keine Vernissagen mehr zu veranstalten.

Forderung nach Totalboykott

Kein Verständnis für schwache Reaktionen und ein teils euphemistisches Wording zeigte man in der Ukraine. Die Kiewer Biennale forderte internationale Partner zum Totalboykott russischer Kunstinstitutionen auf, da sich diese nicht gegen "Putins Krieg" positioniert hätten. Es reiche nicht, Blumen vor das Gebäude der ukrainischen Botschaft in Moskau zu legen, das sei "sehr schwach", meinte der aus Charkiw gebürtige Videokünstler Mykola Ridnyj in einem Telefonat mit dem STANDARD am Sonntag.

Vor drei Wochen hatte er noch nicht glauben wollen, dass Russland versuchen könnte, Kiew zu erobern. Doch dann schlugen in seiner Nachbarschaft Raketen ein. Am 25. Februar gelang ihm die Flucht aus der Hauptstadt in das westukrainische Lwiw. Ungeachtet des Kriegsausgangs wisse er nicht, wie die Ukraine da wieder herauskommen könne. Für Kunst habe er derzeit keine Kraft. Nach 25 Minuten endet das Telefonat abrupt: "Es gibt Luftalarm, wir müssen aufhören." (Herwig G. Höller, 1.3.2022)