Stell dir vor, es ist Krieg – und die Deutschen gehen nicht hin. Diese Devise, frei nach Bert Brecht, kennzeichnete jahrzehntelang die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik. Mit Verweis auf die Geschichte lautete das Motto stets: Zurückhaltung.

Niemals wieder sollte die Welt Angst haben vor jenem Land, das den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen hat und von dem unfassbare Gräueltaten ausgegangen sind. Was Lord Hastings Lionel Ismay, der erste Generalsekretär der Nato, in den Fünfzigerjahren als Leitlinie für das Bündnis ausgab, war den Deutschen nur recht: "Keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down." Lange Zeit hielten sich die Deutschen gern selbst klein – und zudem außen vor. Die "Kohl-Doktrin" – von Kanzler Helmut Kohl (1982–1998) ausgegeben – besagte, dass keine deutschen Soldaten in Ländern präsent sein dürfen, die während der NS-Zeit von der Wehrmacht besetzt waren.

Für den Moment ist die Entscheidung des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz nachvollziehbar.
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Doch die Jahre vergingen, der Abstand zu 1945 wuchs und die alliierten Partner drängten. Bei allem Verständnis für die Historie: Das große Deutschland sollte sich nicht immer kleinmachen, raushalten und die anderen an die Front schicken. Und so begannen sich die Deutschen nach der Wiedervereinigung sukzessive an Militäreinsätzen zu beteiligen.

Land der Friedensbewegung

Viele Schritte waren von enormen Protesten begleitet. Man erinnere sich an den Parteitag der Grünen 1999 in Bielefeld. Damals legitimierte der grüne Außenminister Joschka Fischer den ersten deutschen Kriegseinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg. Er wollte, dass sich deutsche Soldaten am Nato-Einsatz im Kosovokrieg beteiligen. Die Empörung war so groß, dass Fischer mit einem Farbbeutel beworfen wurde.

Dann aber wurden Militäreinsätze im Ausland immer mehr zur Normalität. Gleichzeitig schrumpfte die Bundeswehr, die Wehrpflicht wurde ausgesetzt. Nicht allein der Spargedanke steckte dahinter, Berlin sandte auch ein Signal: Wir wollen keine Militärmacht sein.

Und jetzt? Über Nacht ist alles anders. Im Land der Friedensbewegung, in dem grüne Pazifisten regieren, rüstet man nun massiv auf. 100 Milliarden Euro soll die Bundeswehr bekommen, die Ukraine erhält Waffen. Bis vor einigen Tagen Undenkbares ist plötzlich möglich.

Für den Moment ist die Entscheidung des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz nachvollziehbar. In dieser ernsten Lage muss Deutschland seine Zurückhaltung aufgeben. Nicht ein Deutschland, das aufrüstet, macht Angst. Vielmehr böte ein Deutschland, das untätig bleibt, Anlass zur Sorge.

Niemand weiß heute, was dieser Krieg Europa und Deutschland noch abverlangen wird. Im Moment bekommt Scholz für seine Kehrtwende und diese historische Zäsur viel Applaus.

Unklar ist aber, ob der Beifall anhält. Aber Scholz wird vermutlich wissen, was viele nun denken: Deutschland sollte auch in dieser Lage nicht alleine auf Aufrüstung setzen, sondern gleichzeitig vorne dabei sein, wenn sich die Chance auf Diplomatie bietet. (Birgit Baumann, 28.2.2022)