Schewtschenko bei der Präsentation ihres Buches "Héroïques" 2020 in Paris.

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STANDARD: Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie?

Schewtschenko: Meine Familie ist seit fünf Tagen gefangen zwischen der Wohnung, wo sie Decken und Essen holen, und dem Luftschutzkeller. Die Stadt, wo sie leben, liegt im Eingangsbereich zur annektierten Krim. Dort hat der Krieg sofort sehr heftig begonnen. Ihr Leben hat sich in nur fünf Tagen komplett verändert, es war vor fünf Tagen noch friedlich und normal wie meines in Frankreich oder Ihres in Österreich. Es ist wirklich schwer zu verstehen, was da gerade passiert: Häuser, ganze Städte werden bombardiert, Menschen umgebracht, in nur fünf Tagen ist schon so viel Leid angerichtet und sind ganze Leben zerstört worden, und da erzähle ich jetzt nur, was ich von meiner Familie höre, noch gar nicht, was ich in den Nachrichten mitbekomme. Mein 14-jähriger Neffe hat gestern eine Nachricht von einem Lehrer bekommen, in der stand, dass eine Schulfreundin und ihre gesamte Familie im Auto ermordet wurden, als sie versucht haben zu fliehen.

STANDARD: Wie nehmen Sie den Diskurs in den Medien in Europa wahr?

Schewtschenko: Man diskutiert den Krieg über Politik und ideologische Hintergründe, aber hier geht es um Menschenleben. Ich rede auch mit Ihnen aus Verzweiflung, um den Menschen in der EU zu sagen, dass sie Druck auf ihre Regierungen machen sollen. Dieser Krieg ist ein Racheakt dafür, dass die Ukraine drei Jahrzehnte um ihre Selbstständigkeit gekämpft hat.

STANDARD: Was erwarten Sie jetzt von der EU und von den Nato-Staaten? Ein aktives Eingreifen in den Krieg oder Unterstützung durch Waffen?

Schewtschenko: Die Ukraine kämpft diesen Krieg für Europa! Putin wird nicht hier haltmachen. Er hat selbst gesagt, dass er die Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken für einen Fehler hält. Er hat am Sonntag mit einem atomaren Schlag gedroht, was braucht man noch? Natürlich ist das auch ein Zeichen seiner Schwäche , weil er nicht erwartet hat, dass die Ukraine kämpfen wird, und offenbar hat seine eigene Militärführung zu viel Angst vor ihm, um ihm zu sagen, dass es nicht so schnell gehen würde, wie er erwartet hatte. Ich bin keine Expertin für Kriegsführung, aber es ist klar, dass Sanktionen nicht reichen werden. Putin ist es egal, ob sein Volk leidet. Die Ukraine braucht Unterstützung durch Waffen. In manchen Dörfern halten die Menschen mit ihren Fahrrädern die Panzer auf, es ist unvorstellbar! Und natürlich braucht es humanitäre Hilfe. Viele Menschen haben nicht einmal mehr genug Nahrung für ihre Babys.

STANDARD: Und eine aktive militärische Intervention?

Schewtschenko: Ich bin selbst erstaunt, dass ich jetzt so etwas sage: Aber wenn man eine militärische Intervention als letzte Möglichkeit ausschließt, schwächt das den Druck auf Putin.

STANDARD: Die Welt ist geschockt, dass Putin nun tatsächlich angegriffen hat. Hat Sie Putin überrascht?

Schewtschenko: Nein. Putin ist nicht plötzlich verrückt geworden, er kam an die Macht und ging zuerst gegen Tschetschenien los, dann kam Georgien, dann die Ukraine. Er kann kein demokratisches, freies Nachbarland akzeptieren, weil früher oder später die Menschen in Russland das auch haben wollen würden. Er duldet nur ihm hörige Marionettendiktaturen um ihn herum wie in Belarus, wo er auch gezielt die Opposition geschwächt hatte.

STANDARD: Auch in Österreich haben viele Industrielle mit Putins Russland gute Geschäfte gemacht, viele pochen auf die Wirtschaft als Brückenbauer, manche behaupte sogar, Putin sei vor über 20 Jahren als Reformer angetreten. Was sagen Sie dazu?

Schewtschenko: Er wollte von Anfang an sein Regime installieren und das System von Boris Jelzin loswerden, nur in diesem Sinne kann man ihn einen Reformer nennen. Aber Putin ist kein Businesspartner, er ist eine Bedrohung. Hören Sie sich seine Reden von 2000 und 2003 an. Er war immer ein paranoider KGB-Mann mit einem enormen Drang zu Macht und Einfluss und ein Kriegsverbrecher. Ehrlich gesagt, als eine, die selbst von einer seiner Diktatoren-Marionetten, dem früheren ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch, verfolgt wurde und deren Familie heute von Putin bombardiert wird, bin ich extrem verletzt, wenn Menschen ihre Beziehungen zu Putin immer noch schönreden.

STANDARD: Ihr jetziger Präsident Wolodymyr Selenskyj beeindruckt gerade die Welt mit seinen Reden und seinem Ausharren in Kiew. Hat er Sie überrascht?

Schewtschenko: Er ist nicht mein Präsident. Ich habe seit ungefähr zehn Jahren politisches Asyl in Frankreich, und er wurde 2019 Präsident. Aber ja, es scheint, dass – während in der Welt immer mehr Politiker Clowns werden – hier ein Clown zu einem wahren Anführer geworden ist. Das sollte Menschen in allen Staaten, auch hier in Frankreich, ein Weckruf sein. In dem Sinn, dass es nicht egal ist, wen man wählt, dass es nicht egal ist, ob man überhaupt wählt, denn diese Person ist dann vielleicht eines Tages in einer Krise da oder auch nicht. Er kam mit keiner Erfahrung in die Politik, aber er fühlt sich vielleicht gerade deshalb der Bevölkerung sehr nah. Eigentlich spiegelt er das tapfere Verhalten der ganz normalen Zivilistinnen und Zivilisten wider. Aber ob er später die Ukraine wiederaufbauen könnte, kann ich nicht sagen.

STANDARD: Derweil bezeichnet Putin Ukrainerinnen und Ukrainer als Nazis.

Schewtschenko: Natürlich gibt es auch in der Ukraine Progressive, Konservative und auch Nationalisten, wie in jedem Land. Aber gerade Selenskyjs Wahl zeigt, wie absurd Putins Mythos von der Entnazifizierung der Ukraine ist. Die Ukraine hat einen Juden zum Präsidenten gewählt, dessen Großeltern den Holocaust erlebt haben. Die rechtsextremen Parteien der Ukraine errangen bei dieser Wahl um die fünf Prozent, eine Neonazi-Partei bekam nicht einmal ein Mandat im Parlament – ich würde sagen, das sieht in Deutschland und Österreich anders aus, oder? Heute fliehen ganze jüdische Gemeinden in der Ukraine vor den Angriffen Putins, die er Entnazifizierung nennt. Dabei haben die Ukrainer einst geholfen, den Nationalsozialismus zu besiegen.

STANDARD: Sie haben auch Verbindungen in die russische Kunstszene, zu Intellektuellen. Sie wurden zum Teil, wie auch Feministinnen und Homosexuelle, schon seit Jahrzehnten von Putin verfolgt. Wie ist dort jetzt die Stimmung?

Schewtschenko: Die Einzigen, die Putin stoppen können, sind die Russinnen und Russen, sie haben zu lange zugesehen, ihn zu lange geduldet und wiedergewählt. Ich bin komplett desillusioniert und enttäuscht von der Opposition in Russland. Schön, dass ein paar Tausend in Petersburg und Russland jetzt demonstrieren, aber das ist in Proportion zu diesem riesigen Land gar nichts. Ich weiß, wenn sie demonstrieren, müssen sie mitunter 15 Tage ins Gefängnis, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was die Menschen in der Ukraine gerade so tapfer durchmachen. Ich habe bis vor fünf Tagen nie daran gedacht, in die Ukraine zurückzukehren, aber wenn ich jetzt sehe, was dort passiert, ist die Sehnsucht, dort zu sein, extrem stark. So geht es gerade vielen Ukrainern in der ganzen Welt – ich bin nur eine von ihnen. (Colette M. Schmidt, 28.2.2022)