In Belgrad regiert die Ruhe. Wenn – wie am vergangenen Sonntag – Roter Stern gegen Partizan auf dem Spielplan steht, tragen gefühlt alle dunkle Kapuzen und lehnen an Autos. Die meisten Männer stehen still in der Gegend herum und beobachten einander. Sie konsumieren nichts, außer vielleicht ein paar gesalzene Nüsse, Sonnenblumen- oder Kürbiskerne, die von älteren Herren auf klapprigen Tischen verkauft werden. Einige gehen in den Fanshop der Delije – wie sich der Zusammenschluss der Ultragruppierungen von Roter Stern seit 1989 nennt und was für die Mutigen oder die Helden steht. Er ist in etwa doppelt so groß wie der offizielle Merchandise-Shop des Vereins im Stadion und dreimal so gut besucht.

Dabei ist das Beste an großen Fußballspielen, an den packenden Derbys ewiger Rivalen, eigentlich die ausgelassene Stimmung rund um das Stadion in den Stunden zuvor. Wenn in den Straßen Bier getrunken wird, die Aufstellungen diskutiert und die ersten Fangesänge angestimmt werden. All das gibt es in Belgrad aber nicht. Das hebt man sich für später auf.

Im Stadion ist es mit der Ruhe vorbei.
DER STANDARD

Die teils gespenstisch anmutende Ruhe vor dem altehrwürdigen Stadion Rajko Mitić – besser bekannt als Belgrads Marakana – ringt auch arrivierten Fußballfans Respekt ab. Irgendwas liegt in der Luft, das spürt man. Man weiß nur nie, ob es ein Volksfest oder ein Kleinkrieg sein wird. Alles ist möglich, leider. Die mehr als 3.000 schwerbewaffneten Uniformierten in Kampfausrüstung, die Stunden vor dem Match in etlichen Bussen aus dem ganzen Land herangekarrt werden, tragen das Ihre zur angespannten Stimmung bei. Sie machen einem mit sehr wenigen Worten, deutlichen Blicken und kurzen Handbewegungen klar, dass man sein Bier abzustellen hat oder in welche Richtung man zu gehen hat. Nur die Verrücktesten diskutieren mit ihnen.

Willkommensgrüße und Mitbringsel

Dass man beim "Večiti derbi" – dem "ewigen Derby", wie es die Einheimischen nennen – auch als scheinbar Unbeteiligter eine abbekommen kann, davon erzählt Nemanja. Damals sei es beim Einlass zu Rangeleien wegen gefälschter Tickets gekommen. Nemanja beschreibt seine Zwickmühle so: "Wenn wir nach vorn laufen, verprügeln uns die Bullen, wenn wir nach hinten laufen, verprügeln uns unsere Leute, weil wir vor der Polizei fliehen. Also sind wir nach vorn gelaufen." Und dann kam halt der Magenhaken, der seinen Freund traf.

Nemanja erzählt gern und viel über Crvena Zvezda, über Roter Stern – auch wenn man ihn gar nicht danach fragt. Wie ein Apostel verkündet er die frohen Botschaften aus der Vergangenheit wie etwa den Europa- und Weltpokalsieg von 1991, aber auch die Gebote auf der berüchtigten Nordkurve, die als eine der größten, lautesten und am besten organisierten Kurven Europas gilt. "Wenn mein Nachbar nicht mitsingt, schreie ich ihn an", sagt er über die Verhaltensregeln. Sein Nachbar ist auch diesmal wieder der Schotte Jordan, der seit einem Derbybesuch mit seinem Vater der Leidenschaft, den Choreos und den exzessiven Pyroshows der Rot-Weißen verfiel und seither regelmäßig zu den Derbys nach Südosteuropa reist. Er wird fleißig mitsingen und später noch zu Europaleague-Basketball-Spielen von Roter Stern pendeln. So ein Ausflug soll sich schließlich rentieren.

Pyroshow. Ein Teil des Selbstverständnisses vieler Ultragruppierungen.

Rund zwei Stunden vor dem Spiel nehmen die Polizisten und Spezialeinheiten plötzlich Stellung ein und schicken alle Heimfans in Richtung Stadion. Ein paar Minuten später signalisieren Böller, Trommeln und dumpfe, rhythmische Gesänge, warum das nötig war. Die Partizan-Fans haben den nur einen Kilometer kurzen Marsch von ihrem Stadion hinter sich und kommen beim großen, verhassten Nachbarn an. Die Rivalen werden aus guten Gründen großflächig voneinander abgeschirmt. Schlägereien und Schwerverletzte sind eher die Regel als die Ausnahme. Auch Tote forderten die Gewaltexzesse rund um das Derby bereits. Im Nordosten des Stadions aber gibt es eine kleine Anhöhe am Topčiderberg, von der aus sich die Fans aus gut 200 Meter Distanz zumindest sehen können. Ein paar hundert Mittelfinger sind der Willkommensgruß. Der Gästezug hält kurz an und hat seinerseits ein paar Böller und viele unschöne Worte mitgebracht.

Festungen, Panzer und Kriegsrhetorik

Bevor es ins Stadion geht, posieren noch einige vor den vielen Wandmalereien oder dem mit Stickern beklebten Panzer, der außerhalb der Nordkurve steht. Eigentlich war historisch ja Partizan dem Verteidigungsministerium stets näher und Roter Stern dem Machtzirkel und Einflussbereich des Innenministeriums zuzurechnen, aber zur Verteidigung des eigenen Stadions nutzt man dann halt auch mal die Symbole des Gegners. "Wir sind eine uneinnehmbare Festung", formuliert es Nemanja martialisch. Und auch sonst schwingt bei den Songs immer wieder viel Kriegsrhetorik mit. Für gewöhnlich noch gepaart mit überbordendem serbischem Nationalismus und – seit der Nato-Bombardierung Serbiens 1999 – auch mit einer ordentlichen Portion Anti-Amerikanismus.

Posen vor dem Panzer.
Foto: Sommavilla

Wenngleich sich die beiden Vereine aus der antifaschistischen Jugend Serbiens einerseits und aus den Tito-Partisanen der jugoslawischen Volksarmee andererseits herausbildeten, ist der Antifaschismus auf den Rängen in den vergangenen Jahrzehnten viel zu oft offenem Rechtsextremismus gewichen. Bekannte Hools aus der Kurve wie Ivan "der Schreckliche" Bogdanov landeten wegen Hitlergrüßen und Gewalt, die zu Spielabbrüchen führten, nicht nur einmal bei der Polizei oder im Gefängnis. Unter der Führung Željko Ražnatovićs, besser bekannt unter seinem Spitznamen Arkan, entwickelten sich mit "Arkans Tiger" zahlreiche Belgrader Ultras in den Jugoslawienkriegen der 1990er zur "gefürchtetsten und brutalsten Einheit in Serbiens Mordmaschinerie", wie der "Guardian" schon 2001 schrieb. Immer wieder wurde in der Fankurve der Delije für den Krieg rekrutiert. In einer Zeit, da die goldene Generation von Roter Stern eigentlich den europäischen Fußball prägen und dominieren sollte, war auf einmal Krieg im Mittelpunkt von Spielern und Fans, fasst der britische Autor James Montague in "Unter Ultras" die Situation treffend zusammen.

Alle stehen, alle singen

Rund eine Stunde vor Spielbeginn sind die beiden Gästesektoren bereits prall gefüllt. Dass sich an diesem Tag "nur" etwas mehr als 40.000 Männer und vereinzelte Zuschauerinnen ins Stadion drängen, liegt auch an ihnen. Etwa weil ein Ex-Delije zum "Feind" überlief und seinerseits zum Capo und Vorsinger einer Partizan-Gruppe wurde, sind die Schwarz-Weißen teils heftigst untereinander zerstritten und müssen im Stadion nicht nur von den heimischen Fans, sondern eben auch voneinander getrennt werden. Korruptionsvorwürfe gegen andere Fangruppen und unterschiedliche Auffassungen zur Klubpolitik sind andere Gründe, warum es zwei Gästesektoren mit ordentlich viel Platz dazwischen braucht.

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Die Delije.
Foto: AP/Darko Vojinovic)

Dafür ist es auf den restlichen Tribünen umso voller. Wie hier jemals 108.000 Menschen eine Europapokal-Partie gegen Bayern München verfolgt haben sollen, entzieht sich dennoch jeglicher Vorstellungskraft. Die Reihe und den zugeordneten Sitzplatz auf der Eintrittskarte ignorieren so gut wie alle. Spätestens mit dem Anpfiff sitzt sowieso ausnahmslos keiner mehr. Masken gibt es noch weniger als Frauen im Stadion. Und der durchschnittliche Fünfjährige ist fanatischer als viele Erwachsene hierzulande.

Ein Lebenstraum für Dragović

Roter Stern wärmt sich traditionell außerhalb des Stadions auf, um das Adrenalin beim Einzug auf Fan- und Spielerseite noch höher schnellen zu lassen. "Daran musste ich mich auch erst gewöhnen", sagt Österreichs Teamspieler und lebenslanger Roter-Stern-Fan Aleksandar Dragović. Wenn er die Fans im Spielertunnel dann aber singen höre, sei das ein unglaubliches Gefühl. Die Eltern des gebürtigen Wieners stammen aus einem Belgrader Vorort, und nachdem sich in Serbien quasi jeder und jede zu einem der beiden erfolgreichsten Vereine Jugoslawiens und Serbiens bekennt, war das auch bei den Dragovićs nicht anders. Die Stimmung im Stadion nun selbst als Spieler erleben zu dürfen, sei die Erfüllung eines Kindheitstraums, sagt Dragović.

Dragović bejubelt das 2:0.
Foto: EPA/ANDREJ CUKIC

Vor dem Spiel sei er brutal nervös gewesen, und schon seit Tagen wurde er in der Stadt an jeder Straßenkreuzung von Fans angesprochen und auf einen Pflichtsieg eingestimmt. Das motiviert, bringt aber auch ordentlich Druck. "Ein Derbysieg zählt für sie mehr als die Meisterschaft. Noch mehr zählt nur, dass wir bedingungslosen Einsatz zeigen und immer alles für den Verein geben und auf dem Platz kämpfen", so der Innenverteidiger, der nach Stationen bei Austria Wien, FC Basel, Dynamo Kiew, Bayer Leverkusen und Leicester City seit der heurigen Saison erstmals für seinen Herzensverein aufläuft.

Belgrader Totengräber

Von den ersten Minuten des Spiels bekommen Tausende im Stadion dann erst einmal nichts mit. Auf Partizan-Seite liegt das an den Dutzenden weiß und gelb leuchtenden pyrotechnischen Gegenständen, die abgefeuert werden und eine riesige graue Rauchwolke fabrizieren. Die Delije, die längst auch eine politische Macht im Staat sind, zeigen eine ihrer riesigen Choreografien. Mit tausenden Fahnen wird ein Friedhof ausgerechnet in gelb-blau-schwarzen Farben gezeigt.

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Rauchzeichen der Partizan-Fans.
Foto: AP/Darko Vojinovic

Wegen der russlandfreundlichen Einstellung vieler Serben – ebenso wie zu den "griechischen Brüdern" von Olympiakos Piräus pflegt man seitens der Delije enge Kontakte zu Spartak Moskau, so wie Partizan zu ZSKA Moskau – hatten viele zunächst an eine geschmacklose Bezugnahme auf den Krieg in der Ukraine gedacht. Auch in den sozialen Medien machte sich rasch Empörung breit. Und auch Roter Sterns Hauptsponsor ist Gazprom. Als dann aber das Konterfei eines Mannes mit Vollbart hochgezogen wurde, das die Choreo erklärte, waren viele bemüht zu erklären, dass es sich lediglich um eine schlecht getimte Farbwahl handelte, die aber schon lange ausgemacht und vorbereitet gewesen war.

Die nachgestellte Szene entstammt nämlich dem jugoslawischen Kultfilm "Maratonci trče počasni krug" ("Eine Ehrenrunde für die Marathonläufer"), in dem sich die fünf Nachkommen einer Totengräberfamilie im Kampf um die Nachfolge im Bestatterbusiness andauernd in die Haare bekommen. Partizans größte Ultragruppierung nennt sich ebenfalls die Totengräber – "Grobari". Und in einer Szene des Films, als der besagte Mann auftaucht und einen schönen Abend wünscht, laufen eben alle Totengräber weg. Mehr Seitenhieb als Weltpolitik also, auch wenn vor dem Spiel eine Russlandfahne im Partizan-Block zu sehen war. Für Dragović, der aus seiner Zeit in Kiew noch Freunde vor Ort hat, ist jedenfalls klar, dass diese schreckliche Situation in der Ukraine möglichst schnell enden soll: "Ich hoffe einfach, dass da Ruhe einkehrt", sagt er.

Pyro here, Pyro there, Pyro everywhere

Noch bevor ein dominanter Roter Stern in der 29. Minute in Führung ging, brannten im Partizan-Sektor dutzende Stühle. Das interessierte aber weder die anwesenden Feuerwehrleute noch die Fans. Stimmung wurde einfach ein paar Schritte weiter rechts und links des Brandes gemacht, der mit abgebrochenen Sitzschalen künstlich länger am Leben erhalten wurde. Während die Delije beim Führungstreffer in kollektiven Freudentaumel ausbrachen, riss der bärenstarke Dragović den Torschützen umgehend zurück, als dieser in Richtung Partizan-Fans zu jubeln begann. "Es braucht einfach auch Respekt vor den Gegnern und deren Fans", kommentierte der 31-Jährige nach dem Spiel die Szene dem STANDARD gegenüber. "Wir jubeln mit unseren Fans und nicht gegen andere."

Roter Rauch für Roter Stern.
Foto: Sommavilla

Wer glaubte, dass die Pyro-Bestände nach dem 1:0 aufgebraucht waren, wurde nach dem zweiten Tor kurz vor der Halbzeit, vor allem aber zu Beginn der zweiten Halbzeit eines Besseren belehrt. Dann schien die komplette Nordkurve im Höllenfeuer unterzugehen. Restbestände wurden entweder zum Abfackeln von Partizan-Schals und Fankleidung verwendet oder in Richtung der rund 300 Polizistinnen und Polizisten geworfen, die das Spielfeld schon Stunden vor dem Match und auch nachher noch sicherten.

Während der letzte Pyro nach dem Spiel von einer Traube jubelnder Roter-Stern-Spieler selbst entzündet wurde, sollte es noch etliche Minuten dauern, bis die Fangesänge auf den Rängen verstummten. Wenn schon Partizan im nun wieder offenen Titelrennen den Vorsprung verspielte, so wollten sich die Gästefans nicht auch noch eine bittere Niederlage einfangen und boten trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit lange Paroli.

Vor dem Stadion wartete dann wieder das bekannte Bild: Hundertschaften an schwerbewaffneten Polizisten, die noch kilometerweit vom Marakana entfernt neuralgische Punkte absicherten, ehe es langsam wieder still wurde in der Stadt und die Vorfreude auf das nächste Derby begann. Das ewige Derby hört schließlich nie auf. Noch aber genießt der rot-weiße Teil der Bevölkerung den Sieg, und auch für Dragović wird die Woche entspannter: "Wenn wir verloren hätten, hätten wir uns eine Woche lang in der Stadt nicht zeigen brauchen. So aber ist alles gut." (Fabian Sommavilla aus Belgrad, 1.3.2022)