Im Gastkommentar fordert die Ukrainerin Nataliya Novakova, Programmanalystin bei der NGO Open Society Foundations, es müsse mehr internationalen Druck auf Wladimir Putin geben.

Ukrainerinnen und Ukrainer vor einem Supermarkt in Wassylkiw außerhalb von Kiew, wo ein Öllager getroffen wurde.
Foto: AFP / Dimiltar Dilkoff

Die Ukraine befindet sich bereits seit acht Jahren im Krieg. Doch eine gewisse Zeitlang hielten sich die militärischen Auseinandersetzungen in Grenzen: Der Konflikt wurde zur Routine. Seit acht Jahren habe ich keinen Zugang mehr zu meiner Heimatstadt Luhansk, unweit der russischen Grenze. 2014 wurde Luhansk zur Hauptstadt einer der separatistischen Republiken, die von prorussischen Rebellen kontrolliert werden.

Meine Mutter ist in die Hauptstadt Kiew umgesiedelt, und wir glaubten, wir hätten das Schlimmste hinter uns. Was für ein Irrtum. Nun hört sie Explosionen und kann aus ihrer Wohnung den über dem Militärflughafen von Hostomel aufsteigenden Rauch sehen. Als russischsprachige Ukrainerin gehört sie zu den Menschen, die nach Wladimir Putins Worten Schutz vor den ukrainischen Nationalisten brauchen. "Es ist so dreist", weint sie, "die Russen haben mir schon einmal meine Heimat genommen, und jetzt kommen sie hierher, um sie mir ein zweites Mal zu stehlen."

Putins "Geopolitik"

Ihr und den mehr als eine Million anderen Menschen, die aus dem besetzten Donbass geflohen sind, um in der unabhängigen Ukraine weiterzuleben, wird Putin jedoch kein Ohr leihen. Er lebt in einer Fantasiewelt, in der nur Kontinente eine Rolle spielen – "Geopolitik" nennen es Leute wie er – und in der es nur um Machtkämpfe geht.

Erstaunlich ist, wie groß seine Ignoranz gegenüber der Ukraine ist. Immerhin sind wir Nachbarn. Die Russen, von denen viele familiäre Bindungen zu Ukrainern haben, sollten uns besser kennen. Doch 20 Jahre Diktatur haben einige Menschen offenbar taub und blind werden lassen. Putin und seine Vertrauten scheinen zu glauben, dass die Ukraine eine nationalistische Regierung hat und dass sich das Volk nach einer Wiedervereinigung mit seinen russischen Brüdern sehnt.

"Wir gehören nicht zu einer Kultur, in der ein Zar über alles und jeden entscheidet."

Sie können nicht nachempfinden, dass in der Ukraine schon seit Jahrzehnten freie und faire Wahlen abgehalten werden; und dass unsere Regierung tatsächlich das repräsentiert, was die Mehrheit der Bevölkerung für richtig hält. Es ist nicht wie in Russland, wo Putins Diener Unterstützung für ihn fabrizieren und abweichende Meinungen unterdrücken. Wir haben tatsächlich eine repräsentative Demokratie. Die Vorstellung, dass Russland ein Marionettenregime einsetzen kann, ist ein Resultat des gleichen Hirngespinstes. Wir Menschen in der Ukraine werden uns wehren, wie wir es seit Jahrhunderten tun.

Wir haben lange Zeiträume unter russischer Besatzung oder Herrschaft durchlebt, aber dies soll sich nicht wiederholen. Wir wollen Demokratie, wir schätzen die Freiheit und wir gehören nicht zu einer Kultur, in der ein Zar über alles und jeden entscheidet. Wir sind ein Teil der pluralistischen europäischen Familie. Und jetzt sind wir mehr denn je darauf angewiesen, dass diese Familie uns zur Seite steht.

Völkerrecht achten

Die Zurückhaltung unserer europäischen Freunde hat uns an den Punkt gebracht, an dem die Ukraine überfallen wurde. Doch wir können die Besatzung beenden. Dazu bedarf es nicht nur eines gemeinsamen Standpunkts der Europäer, sondern der ganzen Welt. Wir hoffen, dass bei den anstehenden Gesprächen über Russlands Rolle im UN-Sicherheitsrat und UN-Menschenrechtsrat die Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika Position gegen diese Aggression beziehen werden. Es liegt in unser aller Interesse, dafür zu sorgen, dass das Völkerrecht der Grundstein der Weltgemeinschaft ist und dass kein Land, egal wie mächtig, es missachten kann. Putin ist ein Aggressor und ein Verbrecher, der versucht, ein friedliches Nachbarland zu besetzen. Sein Platz ist im Gefängnis.

"Russlands Status in der Uno sollte auf den Prüfstand gestellt werden."

In dem Moment, in dem russische Truppen die Grenze eines anderen Landes überschritten haben, hat Putin Russlands Platz auf der Liste aller respektierten internationalen Institutionen verspielt. Für Putins Russland ist kein Platz im Europarat, denn nein, dieses Land achtet die Menschenrechte nicht. Kein Platz bei Interpol, denn man kann nicht mit russischen Sicherheitsdiensten zusammenarbeiten und so tun, als hätte man ein ähnliches Verständnis von Rechtsstaatlichkeit wie der Kreml. Russlands Status in der Uno sollte auf den Prüfstand gestellt werden, da es sich nicht um einen friedliebenden Staat handelt, wie es die Charta verlangt.

Die Weltgemeinschaft sollte geschlossen harte Sanktionen gegen Putin verhängen und bereit sein, diese langfristig aufrechtzuerhalten. Sie sollte der Ukraine bei der Stärkung ihrer Armee und der Milderung der humanitären Folgen für die Zivilbevölkerung helfen. Dies ist ein Kampf für Werte, für Demokratie und gegen Autoritarismus, und wir können ihn nur mit geeinten Kräften gewinnen. (Nataliya Novakova, 1.3.2022)