Krebszellen sind schwieriger zu bekämpfen als Viren. Dennoch: Mithilfe von Boten-RNA können personalisierte Vakzine gegen Tumoren entwickelt werden.

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Corona dürfte am Beginn des dritten Pandemiejahres langsam seinen Schrecken verlieren. Durch Impfungen und überstandene Infektionen ist die Bevölkerung zu einem großen Teil immunisiert, die Seuchendynamik nimmt ab. In nicht allzu ferner Zukunft sollte die Viruserkrankung nur mehr lokale und zeitlich begrenzte Ausbrüche verursachen.

"Dann werden wir weltweit viele Produktionsstätten für mRNA-Impfstoffe haben, die bei weitem nicht mehr so viele antivirale Vakzine wie heute produzieren müssen", meint der Virologe Christian Mandl, ehemals Forschungschef bei Novartis Vaccines, mittlerweile Co-Gründer des Unternehmens Tiba-Biotech in Cambridge bei Boston. "Es sollten Kapazitäten frei werden."

Und die könnte man, sagt der Experte, für die Entwicklung von mRNA-Impfstoffen gegen Krebs nutzen. Der Gedanke scheint naheliegend, wenn man die Geschichte der mRNA-Vakzine in Erinnerung ruft: Sowohl das Mainzer Unternehmen Biontech, das gemeinsam mit dem Pharmakonzern Pfizer den ersten Corona-Impfstoff auf den Markt brachte, als auch der nicht minder erfolgreiche US-Hersteller Moderna begannen ihre mRNA-Forschungsarbeiten vor Corona mit Krebstherapeutika.

Bestimmte Information

Die Idee der mRNA-Impfungen klingt einfach, ist aber das Ergebnis jahrzehntelanger Forschungsarbeiten mit zahlreichen Rückschlägen: Eine Messenger-RNA (mRNA), die in ihrem natürlichen Vorkommen in unseren Zellen genetische Codes für den Aufbau von Eiweißmolekülen (Proteinen) übermittelt, wird in den menschlichen Organismus injiziert. Sie nimmt eine ganz bestimmte Information mit auf die Reise.

Im Fall von Corona ist es der Bauplan des Spike-Proteins, mit dem das Virus an die menschliche Zelle andockt, in dieser vorliegenden Form aber keine Gefahr darstellt. Die Impfung verursacht dennoch eine Reaktion des Immunsystems, der menschliche Körper lernt, sich gegen Corona zu wehren, produziert Antikörper. Im Fall von Krebs sind es Tumorantigene, Proteine, die im Tumor verändert sind und als ideale Angriffsziele für die Immunabwehr identifiziert werden.

Keine Wunderwaffe

Wichtig ist, den Feind zu erkennen und im besten Fall zu zerstören, sagt der Hämatologe Johannes Zuber vom Institut für Molekulare Pathologie (IMP) in Wien. Und er ergänzt in Blickrichtung zahlreicher Verschwörungstheorien, die sich bis heute halten: "Die mRNA kann weder im antiviralen noch im Krebs-Impfstoff das menschliche Erbgut in irgendeiner Form verändern."

Die Corona-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna waren in Rekordgeschwindigkeit fertig. Das Tempo und der große Erfolg nähren Hoffnungen, ein Krebs-Vakzin auf Basis derselben Technologie ähnlich schnell und wirkungsvoll herzustellen. Fachleute bremsen diese Erwartungen und mahnen zur Zurückhaltung. Florian Krammer, Infektiologe am Mount Sinai Hospital, forscht selbst mit mRNA-Impfstoffen gegen Influenza. Die mRNA-Plattform sei zwar vielseitig einsetzbar, prinzipiell könne man jedes Protein damit in Zellen exprimieren, sagt er. "Es ist aber sicher keine Wunderwaffe."

Man dürfe nun nicht erwarten, sofort Infektionskrankheiten wie Malaria oder Aids heilen zu können oder mit gleicher Effizienz wie im Fall von Corona gegen Tumore ankämpfen zu können. Auch der indisch-amerikanische Immunologe Rafi Ahmed von der Emory University in Atlanta warnt im Gespräch mit dem STANDARD vor überzogenen Erwartungen: "Krebszellen sind um ein Vielfaches schwieriger zu bekämpfen als Viren." Vor allem sind sie, vereinfacht gesagt, trickreicher in ihren Überlebensstrategien.

Hilfe für das Immunsystem

Dazu muss man wissen: Vorläufer von Krebszellen entstehen durch verschiedenste Mutationen relativ häufig, führen aber in den allermeisten Fällen nicht zu Erkrankungen. Das menschliche Immunsystem ist nämlich im Normalfall sehr effizient beim Auffinden und Bekämpfen dieser Zellen. Manchmal aber entwischen die Zellen dem körpereigenen Abwehrmechanismus, es entsteht Krebs, weil ein "immununterdrückendes Umfeld" aufgebaut wurde, wie Virologe Mandl sagt. Die Zellen verstecken sich vor den Erkennungsmechanismen des Immunsystems.

Die biomedizinische Forschung setzt heute große Hoffnung in neue Behandlungsmethoden, bei denen man diese immunologische Blockade zu überwinden versucht, man dem Immunsystem quasi hilft, die Krebszelle zu erkennen und zu zerstören. Die mRNA-Technologie wäre ein derartiger Ansatz. Dazu werden den Erkrankten Krebszellen entnommen und binnen weniger Tage genetisch analysiert.

Individuelle Impfstoffe

Mittels selbstlernender Algorithmen wird versucht, jene Mutationen zu identifizieren, die am wahrscheinlichsten vom Immunsystem erkannt werden können. Proteinbestandteile, die diese Mutationen aufweisen, werden dann in mRNA-Impfstoffe individuell für jeden Patienten eingebaut und verabreicht.

Schon nach vier bis sechs Wochen, sagt die Biontech-Mitbegründerin Özlem Türeci, soll das personalisierte Vakzin abgestimmt auf die spezifische Tumorerkrankung zur Verfügung stehen.

So weit die Theorie. In der Praxis sind aber viele Frage offen: Hat man den Impfstoff gegen das richtige Protein entwickelt? Entwickelt der Körper auch zusätzlich genug T-Zellen, die bei der körpereigenen Bekämpfung der Tumorzellen laut vielen Experten eine große Rolle spielen? Diese Untergruppe der Lymphozyten greifen Zellen an, die Tumorantigene enthalten.

Die sogenannte selbstamplifizierende RNA (self-amplifying RNA) hat erwiesenermaßen das Potenzial, eine deutlich stärkere T-Zellen-Antwort zu provozieren als konventionelle mRNA. Dabei muss nur eine geringere Dosis injiziert werden, was eventuelle Impfreaktionen verringern sollte. Die Impfung scheint allerdings nicht für alle Krebstypen geeignet zu sein und sollte auch nicht als einzige Strategie gegen den Tumor angewandt werden. Es kann nur ein ganzes Bündel an Maßnahmen zum Erfolg führen.

Kombinationstherapien

Biontech jedenfalls führte im Herbst 2021 eine klinische Studie der Phase 2 mit einem Serum durch, das vor allem nach überstandener Erkrankung zurückkehrende Tumorzellen (Rezidiv) erfolgreich bekämpfen soll. In diesem Fall war es der Dickdarmkrebs.

Andere Unternehmen wie das noch junge Start-up Gritstone aus Cambridge bei Boston versucht, einen selbstamplifizierenden mRNA-Impfstoff gegen individuelle Tumorantigene mit einer zweiten Impfung zu kombinieren, die, ähnlich wie bei den Covid-Impfstoffen der Firmen Astra Zeneca und Johnson & Johnson, auf der Verwendung eines nicht infektiösen Adenovirus-Trägers basiert.

Virologe Mandl glaubt, dass derartige Kombinationstherapien die Zukunft der personalisierten Krebsmedizin sind. "Wir haben ja bei Corona gesehen, dass Impfstoffkombinationen sehr gut wirken." Bis es aber zu einer hochwirksamen Therapie kommt, werden noch einige Jahre vergehen. Wenn man aber irgendwann statt der ungerichteten Waffe der Chemotherapie, die den Organismus insgesamt schädigt und nicht nur die Krebszellen, mit einem Vakzin gegen ein Rezidiv ankämpft, wäre schon viel gewonnen. (Peter Illetschko, 5.3.2022)