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Nachdem eine Übernahme mit Spezialeinheiten in den ersten Kriegstagen nicht gelungen ist, fährt Moskau nun die Zahl der Bombardierungen nach oben. In Charkiw (im Bild: das Rathaus nach Angriffen am Dienstag) gab es zuletzt auch zahlreiche zivile Opfer, genaue Zahlen sind nicht bekannt.

Foto: AP Photo/Pavel Dorogoy

Mit Pomp und Gloria hatte sich die russische Propaganda die anvisierte und schon vorab geschriebene Vollzugsmeldung vom glorreichen Sieg des Vaterlandes über die "Nazis" in Kiew ausgemalt: Der blitzschnelle Triumph der russischen Armee in der Ukraine läute eine neue Ära ein, Präsident Wladimir Putin habe die "ukrainische Frage" ein für alle Mal gelöst. "Russland stellt seine historische Ganzheit wieder her, indem es die russische Welt, das russische Volk in seiner Gesamtheit aus Großrussen, Weißrussen und Kleinrussen (Ukrainern, Anm.) zusammenführt", jubelte der Chefkommentator der vom Kreml gesteuerten Nachrichtenagentur Ria Novosti in einem Text, der am Samstag Putins vermeintlichen Sieg versehentlich online in die Welt hinausposaunte.

Bloß: Von einem schnellen Sieg kann bei näherer Betrachtung der Situation auf dem Feld keine Rede sein. Dem peinlichen Fehler – der Artikel war nach einer Minute wieder aus dem Netz verschwunden – zum Trotz birgt die Realität des russischen Angriffskrieges in der Ukraine weit weniger Anlass für Moskaus Siegesfanfaren.

Die ob ihres Waffenarsenals haushoch überlegene russische Armee tut sich bei ihrem von Moskau zynisch "Spezialoperation" genannten Angriffskrieg weit schwerer als von Putin wohl eingepreist. Der Widerstand der ukrainischen Armee fordert unter den russischen Soldaten mehr und mehr Opfer; der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der weiterhin in Kiew ausharrt und sein Volk mit täglichen Videobotschaften zum Durchhalten aufruft, ist drauf und dran, die Lufthoheit im Informationskrieg wieder zu erringen.

Ob die Ukraine letztlich der russischen Übermacht noch lange wird standhalten können, steht in den Sternen. DER STANDARD hat sich fünf mögliche Szenarien näher angesehen, die einander keineswegs gänzlich ausschließen – und deren Wahrscheinlichkeit nur schwer einzuschätzen ist.


Szenario 1: Russland marschiert in Kiew ein und setzt Selenskyj ab

Dass Kiew bis Dienstagabend noch immer von der ukrainischen Armee gehalten wird, verdeutlicht die ganze Misere, in die der russische Angriff sechs Tage nach Kriegsbeginn geschlittert ist. Nichts weniger als einen "Enthauptungsschlag" gegen die ukrainische Hauptstadt hatten Moskaus Militärstrategen und ihr oberster Befehlshaber Wladimir Putin im Sinn, der die von Putin in seiner grimmigen Rede vor einer Woche angekündigte "Entnazifizierung" einleiten sollte. Man wolle, so Putin, "diejenigen vor Gericht stellen, die zahlreiche blutige Verbrechen an Zivilisten, einschließlich Bürgern der Russischen Föderation, begangen haben". Daraus wurde vorerst nichts: Der oberste "Neonazi", der aus einer russischsprachigen Familie stammende Jude Wolodymyr Selenskyj, sitzt nach wie vor im Kiewer Präsidentenamt.

Nun soll es ein riesiges Militäraufgebot richten: Bis zu 60 Kilometer lang ist die Kolonne der russischen Panzer und Truppentransporter, die so gut wie unaufhaltsam auf Kiew zurollt. Die Brutalität der russischen Kriegsführung dürfte dabei in den kommenden Tagen noch zunehmen. "Putin setzt derzeit nur auf den Weg nach vorn und auf die Durchsetzung seiner politischen und militärischen Ziele mit Gewalt", glaubt Gerhard Mangott, Russland-Kenner und Politikwissenschafter an der Universität Innsbruck. Sein Ziel: die gewählte Regierung ab- und diese durch ein Vasallenregime ersetzen, das Moskau hörig ist.

Wie es danach weitergeht, ist nach Ansicht Mangotts aber höchst unklar. "Alles, was eine Marionettenregierung auf ukrainischer Seite Russland anbieten würde, wäre sofort vom Tisch, wenn die Besatzung endet. Es gibt in der Ukraine schlicht keine Mehrheit für eine russlandfreundliche Regierung." Eine dauerhafte Kontrolle der Ukraine durch Russland mittels eines neuen Regimes würde also selbst dann schwierig, sollte Putin sein erstes Ziel erreichen und die Kiewer Regierung verjagen.

Szenario 2: Russland lässt sich in einen Guerillakrieg ziehen

Schon wenige Stunden nachdem russische Truppen die Grenze zur Ukraine überschritten hatten, riefen die Kiewer Behörden ihr Volk an die Waffen: Zehntausende Gewehre wurden allein in Kiew an alle Bürgerinnen und Bürger ausgegeben, die sich "physisch und psychisch" zum Kampf in der Lage fühlen, wie es das Verteidigungsministerium formulierte.

Weil die ukrainische Armee aller Unterstützung aus dem Ausland zum Trotz dem russischen Militär auf Dauer nicht genug wird entgegensetzen können, um die Invasoren zurückzuschlagen, rechnen einige Fachleute mit einem baldigen Schwenk in Richtung "asymmetrische Kriegsführung" – also mit einem Guerillakrieg. So etwa der frühere US-Generalleutnant Mark Hertling, der an der Ausbildung ukrainischer Soldaten beteiligt war und heute etwa auf CNN die Lage aus Sicht des Militärs analysiert. Der Krieg, so Hertling, werde lange dauern, aber "ob man es nun einen ‚Aufstand‘ oder einen ‚Guerillakrieg‘ nennt, die Ukraine wird den Feind zermürben".

Ein Guerillakrieg mit Hinterhalten, Anschlägen und Häuserkämpfen berge schließlich selbst für die überlegene russische Armee große Risiken, sagt Politologe Mangott. "Putins bisherige militärische Engagements in Georgien, auf der Krim, im Donbass und auch in Syrien waren immer so angelegt, dass möglichst wenige russische Soldaten ums Leben kommen." Bei einem Krieg wie jenem in der Ukraine seien hohe Opferzahlen auch auf russischer Seite aber nur schwer zu vermeiden. "Putin weiß um das Risiko, das im Inneren Widerstand entstehen kann, wenn es viele Opfer unter den eigenen Soldaten gibt."

Gegen einen erfolgreichen Guerillakrieg spricht nach Ansicht von Experten hingegen die Topografie des Landes, wo es kaum Gebirge und damit wenig Rückzugsräume gibt. Und auch die schmalen Grenzkorridore, etwa zu Polen, lassen nur wenige Räume offen, in denen der Westen den Partisanen Waffen liefern könnte.

Szenario 3: Moskau und Kiew einigen sich in Verhandlungen

Das Bild von den beiden ungleichen Verhandlungsteams ging am Montag um die Welt: auf der einen Seite die russische Delegation, eingeflogen in feinem Zwirn, gegenüber die Ukrainer, die im Freizeitlook direkt aus dem Kriegsgebiet ins belarussische Gomel reisten.

Der Gegensatz ging aber weit über optische Distinktion hinaus: Während sich die ukrainische Delegation wohl nur deshalb ins Feindesland – Belarus ist Aufmarschgebiet der russischen Invasionsarmee – begab, um sich angesichts des militärischen Drucks am Strohhalm der Diplomatie festzuhalten, gibt es für Russland aktuell nur einen Grund, das Gespräch mit der von Putin als "Drogensüchtige" und "Neonazis" verfemten Kiewer Regierung zu suchen: "Moskau will seiner Bevölkerung kommunizieren, dass man natürlich eine Verhandlungslösung suche und dass man diesen Krieg, der Russland aufgezwungen worden sei, eigentlich nicht wolle", sagt Mangott.

Eine echte Perspektive für eine Verhandlungslösung sieht der Professor nicht – schon deshalb, weil keine der beiden Seiten in der derzeitigen Lage auf ihre Kernforderungen wird verzichten können. Für Putin stehen dabei die Forderung nach einer Entmilitarisierung und einem neutralen Status der Ukraine sowie eine Anerkennung der 2014 annektierten Krim im Fokus; die Ukraine hingegen verlangt einen Waffenstillstand und den Abzug der russischen Truppen.

Allzu hoch kann Putin bei den aktuellen Verhandlungen – am Mittwoch soll es weitergehen – also ohnehin nicht pokern, ohne sein Gesicht zu verlieren.

Gibt es denn überhaupt eine gesichtswahrende Lösung für Russlands Präsidenten? "Ich kann es mir nicht vorstellen, weil Putin am Ende jedenfalls mehr bekommen müsste, als er vor Beginn des Kriegs gehabt hat", sagt Mangott. "Würde er etwa die Territorialgewinne in den Donbass-Oblasten wieder aufgeben, wäre das eine dramatische Niederlage für Putin."

Szenario 4: In Russland wächst der Widerstand gegen Putin

Manch einer im Westen mag sich die Vorstellung schön ausmalen, dass sich im Kreml Widerstand gegen den scheinbar irrational handelnden Kriegsherrn Putin aufbaut – und eine Palastrevolte nicht nur dessen Herrschaft zu Hause beendet, sondern auch den Krieg in der ukrainischen "Brudernation".

Tatsächliche Opposition gegen den Kriegskurs Putins entspringt zur Stunde freilich mehr dem Wunschdenken als den harten Fakten. Zwar habe es vor dem Krieg durchaus zwei Lager im Kreml gegeben, wie Russland-Experte Gerhard Mangott erklärt. Der Wirtschaftsflügel in der Regierung rund um Premierminister Michail Mischustin und dessen Vize Andrej Beloussow habe sich wegen der erwarteten Sanktionen gegen den Ukraine-Krieg ausgesprochen, im weit stärkeren Sicherheitsflügel rund um Verteidigungsminister Sergej Schoigu habe aber ein weitgehender Konsens geherrscht, die Invasion zu wagen.

"Die bizarren Loyalitätsbekundungen vor laufender Kamera vor Beginn des Kriegs dienten dem Zweck, dass Putin diese Personen auf den weiteren Verlauf verpflichten wollte." Dass sich der Sicherheitsapparat gegen Putin erheben könnte, schließt Mangott daher aus. "Wenn Putin fällt, fallen andere Leute mit", so die Logik. Und auch den sonst so mächtigen Oligarchen kann der Präsident mit dem Druckmittel der Verstaatlichung und dem Entzug ihres Wohlstands leicht die Rute ins Fenster stellen, sollten sie sich öffentlich gegen den Krieg aussprechen.

Dass sich die russische Öffentlichkeit im Kreml, aller Repression zum Trotz, Gehör verschafft, sollten viele russische Soldaten beim Kampf um die Ukraine sterben, schließt Mangott hingegen nicht aus. Der Krieg ist bei einer Mehrheit der Russinnen und Russen nicht besonders populär, Putins Narrative kommen nicht bei allen so gut an. "Die Proteste können trotz aller Risiken durchaus größer werden, eine Revolte von unten sehe ich aber nicht."

Szenario 5: Der Krieg um die Ukraine eskaliert international

Der peinliche Lapsus des sonst so linientreuen Kreml-Sprachrohrs Ria Novosti am Wochenende wirft auch ein Licht auf die hochtrabenden Ziele Putins: Russland habe mit seinem – dort versehentlich gemeldeten – Sieg in der Ukraine die "Tragödie von 1991" vergessen gemacht und den schmachvollen Untergang der Sowjetunion gesühnt.

In den baltischen Staaten reagiert man auf solcherart Rhetorik besonders empfindlich, schließlich gehörten auch Estland, Lettland und Litauen bis 1991 zum direkten Einflussgebiet Russlands, dessen Wiederherstellung sich Putin verschrieben hat. Und auch in Georgien, das 2008 schon einmal von Putins Truppen überfallen wurde und das seit langem um Aufnahme in das westliche Militärbündnis Nato buhlt, und in Moldau mit seinem Separatistenproblem in Transnistrien geht die Angst um.

"Im Augenblick hat weder Russland die Absicht, den Krieg auf Nato-Boden zu tragen, noch will sich die Nato mit eigenen Truppen in der Ukraine engagieren", sagt Mangott. Doch könne es durchaus zu Zwischenfällen kommen, etwa durch Fehlkalkulationen oder Missverständnisse in der Luft oder im Schwarzen Meer zwischen russischen und Nato-Kriegsschiffen.

Putins Kriegsrhetorik, wonach der Westen katastrophale Konsequenzen erleben würde, sollte er sich in den Ukraine-Krieg einmischen, wird von Fachleuten aber so gut wie einhellig als psychologische Drohgebärde verstanden. Die USA und Großbritannien registrieren bisher keinerlei Veränderungen in Russlands Nukleararsenal – trotz erhöhter Alarmbereitschaft.

Außer Zweifel steht laut Mangott aber, dass Russland auch im Fall Georgiens alles tun werde, um dessen Nato-Beitritt zu blockieren. Denkbar sei zudem, dass Russland versuchen werde, eine Landverbindung zwischen möglicherweise bald russisch besetzten Gebieten in der Ukraine und der völkerrechtlich zu Moldau gehörenden Separatistenrepublik Transnistrien herzustellen. (Florian Niederndorfer, 1.3.2022)