Lange Schlangen in der Moskauer U-Bahn, weil manche Zahlungsmethoden derzeit nicht funktionieren.

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Kindergeburtstag im Moskauer Café Piterburger. Acht Jungen im Alter zwischen zehn und elf schwirren um Jelena herum und geben ihre Bestellungen ab. Die meisten wollen Hamburger, Pommes, Cola. Jelena ist froh, als sie die Bestellung endlich eingegeben hat, doch dann der Schock. Als sie mit dem Telefon zahlen will, verweigert sich der Kassenautomat. Jelena ist Kundin der Staatsbank VTB wie rund 14 Millionen weitere Russen. Viele von ihnen zahlen nur bargeldlos, sei es per Apple, Google oder Samsung Pay. Sie tragen weder Portemonnaie noch Kreditkarte mit sich.

Nun, von einem Tag auf den anderen, ist es damit vorbei. Der Service wurde blockiert: Die ausländischen Zahlungsdienstleister wollen den russischen Markt vorerst nicht bedienen. Jelena versucht, über ihre Sberbank-App zu zahlen, und hat Glück. Zwar steht auch Russlands größtes Geldhaus auf der US-Sanktionsliste, doch Inlandszahlungen funktionieren. Der Geburtstag ist gerettet.

Schon in den ersten Tagen der Sanktionen haben viele Russen ihre Auswirkungen gespürt. Denn auch wenn Politiker aus den USA und der EU betonen, dass sie damit vor allem die Kreml-Führung treffen wollen, haben es die einfachen Menschen zuerst gemerkt.

Der lange Weg nach Hause

So haben die Luftfahrtgesellschaften nicht nur alle Flüge nach Europa gestrichen, auch viele Flüge in Urlaubsregionen finden wegen der Überflugverbote für russische Airlines in Europa und Kanada nicht mehr statt. Tausende Russen, die dem Moskauer Winter in die Karibik, nach Mexiko oder Kuba entkommen wollten, müssen nun umdisponieren. Der Urlaub verfällt. Für andere ist es noch komplizierter. Sie stecken irgendwo im Ausland fest und müssen schauen, wie sie nach Hause kommen.

Für viele rückt ein Urlaub in der Sonne in weite Ferne. Der Verfall des Rubels macht Auslandsreisen praktisch unerschwinglich. Schon in der vergangenen Woche in Erwartung der Sanktionen waren an den Wechselstuben die Kurse in die Höhe geschnellt. Schlangen gab es trotzdem. Der Dollar scheint vielen die sicherste Wertanlage zu sein. Andere haben – wer es sich leisten konnte – vorausschauend noch schnell ein neues Telefon oder eine Waschmaschine gekauft. Die Preise für Haushaltstechnik und Elektronik ist innerhalb einer Woche um 80 Prozent gestiegen. Die Verkäufer kamen mitunter mit dem Umkleben der Preisschilder nicht mehr hinterher.

In den Supermärkten hingegen ist der Preisschub noch nicht ganz angekommen. Obst und Gemüse, die oft importiert werden müssen, haben sich leicht verteuert. Doch Brot, Mehl oder Milch sind vorläufig noch stabil. Viele decken sich daher jetzt schon, soweit es geht, ein. Denn auch hier ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Preise steigen.

Zehn Prozent Wirtschaftseinbruch?

Betroffen ist schon Alkohol. Bier, Wein, Cognac und Whisky gewinnen seit Jahren Marktanteile in Russland– meist stammen die Produkte aus dem Ausland. Die größten Importeure und Vertriebshändler von Alkohol, Simple Wine und Luding, haben am Montag die Auslieferung an die Geschäfte vorläufig eingestellt, nachdem der Rubelkurs innerhalb kürzester Zeit die für die Händler kritische Marke von 90 Rubel pro Dollar übersprungen hatte.

Am Dienstag hat Luding die Lieferungen zwar wiederaufgenommen, die Preise werden aber nun angehoben.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow ließ die Unruhe der Russen angesichts der Preissteigerung kalt: "Was die hyperemotionale Reaktion der Verbraucher betrifft, nun, das ist leider die erste emotionale Reaktion", sagte er. In einigen Tagen werde sich die Aufregung legen, und die Bürger würden die Lage wieder "nüchterner" betrachten, prognostizierte er.

Doch Ökonomen außerhalb Russlands sind sich da nicht so sicher. Die exakten Auswirkungen der Sanktionen abzuschätzen ist nicht einfach: Zunächst ist noch vieles unklar. Am Dienstagnachmittag stand immer noch nicht fest, welche Banken nun tatsächlich komplett von internationalen Transaktionen vorerst ausgeschlossen bleiben.

Welche Schlupflöcher bleiben?

Die EU hat ja gegen alle großen russischen Banken Sanktionen angekündigt, darunter auch gegen die VTB und die Sberbank. Außerdem wird die EU mehrere russische Banken aus dem Banken-Kommunikationsnetzwerk Swift ausschließen. Darauf hätten sich am Dienstagabend die Ständigen Vertreter der 27 EU-Staaten in Brüssel verständigt, teilte die aktuelle französische EU-Ratspräsidentschaft mit. Wie die Deutsche Presse-Agentur aus Diplomatenkreisen erfuhr, werden sieben russische Banken von der Maßnahme betroffen sein. Die größte russische Bank Sberbank gehört demnach nicht dazu. Die Rechtstexte dazu sind in Europa noch in Ausarbeitung. Es dürften weitreichende Ausnahmen kommen, etwa um Energiezahlungen mit Russland weiter abzuwickeln, und auch für Töchter ausländischer Banken in Russland wie für die Raiffeisen Bank International und die Unicredit.

Hinzu kommt, dass kein generelles Importverbot für russische Produkte verhängt wurde. Die Sanktionen treffen gezielt den Finanzsektor und den Export von Technologiegütern nach Russland. Dann gibt es gezielte Maßnahmen, mit denen die Ausfuhr von Ersatzteilen für Airlines untersagt wird. Viele Unternehmen brechen außerdem freiwillig ihre Beziehungen zu Russland ab. Volvo will nicht mehr nach Russland liefern, Harley-Davidson will sich zurückziehen.

Dutzende Diplomaten verließen bei der Rede von Russlands Außenminister Sergej Lawrow den Saal des Uno-Menschenrechtsrats.
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Welche Folgen wird das haben? Der Bankensektor selbst ist zwar schwer getroffen, doch zumindest was inländischen Geschäfte anbelangt, kann Russland relativ unabhängig vom Ausland operieren. Die russische Notenbank kann den Kreditinstituten im Land unbeschränkt Rubel zur Verfügung stellen.

Doch die Sanktionen gegen Banken im Ausland und gegen die russische Notenbank haben zu erwähntem Verfall des Rubels geführt. Das lässt Inflation ansteigen, weil importierte Waren teurer werden. Die russische Notenbank hat als Reaktion die Zinssätze auf 20 Prozent angehoben, um weitergehende Kapitalflucht zu verhindern. Dazu kommen noch Kapitalverkehrskontrollen, Devisen dürfen nur noch sehr beschränkt ins Ausland gebracht werden. Doch Zinsen in dieser Höhe bedeuten, dass russische Unternehmen kaum noch an Kredite herankommen werden. Die Folge ist, dass Investitionen einbrechen werden.

Starker Wirtschaftseinbruch erwartet

Die US-Bank JPMorgan Chase schätzte in einer Note an Klienten, dass Russlands Wirtschaftsleistung (BIP) als Folge dieser Maßnahmen bis Ende September um ein Zehntel eingebrochen sein wird. Hendrik Mahlkow vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat auch versucht, die Folgen des Ausschlusses Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem Swift zu berechnen. Allein der kann längerfristig, bei einem kompletten Rauswurf, bis zu neun Prozent der russischen Wirtschaftsleistung kosten.

Der Chefökonom der Industriellenvereinigung, Christian Helmenstein, verwies auch darauf, dass die Sperre von Exporten für Ersatzteile in der Luftfahrtindustrie gravierende Folgen für den innerrussischen Luftverkehr haben werde: Die meisten Flugzeuge im Einsatz sind Airbus und Boeing, ohne Ersatzteile würden diese Maschinen nicht lange fliegen können, so Helmenstein.

Kritische Oligarchen

Diese Gemengelage – schlechte Aussichten für das Wachstum, hohe Inflation, wenige Investitionen, Kapitalverkehrskontrollen, weniger Mobilität, westliche Sanktionen – sorgt auch bei russischen Oligarchen für Nervosität.

Zumindest lassen sich so Aussagen einiger prominenter Unternehmer in den vergangenen Tagen interpretieren. Mikhail Fridman, der die Unternehmensgruppe Alfa Group leitet, zu der Banken und Versicherungen gehören, rief in einem Brief an Mitarbeiter seiner Londoner Firma Letter One dazu auf, das Blutvergießen zu beenden. Ein Krieg sei nie der richtige Weg, so Fridman, dessen Vermögen auf 14 Milliarden US-Dollar geschätzt wird.

In einem Beitrag auf der Plattform Telegram rief auch der russischen Industrielle Oleg Deripaska dazu auf, Frieden zu schließen. "Verhandlungen müssen so bald wie möglich beginnen", so Deripaska, der auch an der Strabag in Österreich und am Aluminiumgiganten Rusal beteiligt ist. Deripaska forderte von der russischen Führung auch Informationen dazu, wie das Land die kommenden drei Monate wirtschaftlich durchstehen soll. (André Ballin aus Moskau, András Szigetvari, 2.3.2022)