Funde bei Isolino Virginia im norditalienischen Lago di Varese weisen darauf hin, dass die dortigen Pfahlbauten mit einem Alter von rund 7000 Jahren vergleichbare Bauten in der Schweiz beeinflussten.
Foto: R. Soteras; Antolín et al., Journal of Archaeological Science: Reports, 2022

Nicht nur die Venus von Willendorf stammt – ihrem Material zufolge – vermutlich aus Norditalien. Auch die wesentlich jüngeren Pfahlbauten könnten einer aktuellen Studie zufolge ihren Ursprung in der heutigen Lombardei haben. Hier befindet sich jedenfalls die älteste gut erhaltene Pfahlbausiedlung der Alpenregion – am Isolino Virginia, einer kleinen Insel im Lago di Varese, der nicht weit entfernt vom Lago Maggiore liegt.

Deren früheste Besiedlungsgeschichte reicht zurück in die Zeit zwischen 4950 und 4700 vor Christus, wie das internationale Forschungsteam um den Archäobotaniker Ferran Antolín Tutusaus, Professor an der Universität Basel, im Fachmagazin "Journal of Archaeological Science: Reports" berichtet. Zum Vergleich: Die ältesten bekannten Pfahlbausiedlungen der Schweiz werden auf etwa 4300 vor Christus datiert, die ältesten in Österreich, die ebenfalls zum Unesco-Weltkulturerbe gehören, auf etwa 4000 bis 3750 v. Chr.

Im Wasser gut erhalten

Das Unesco-Welterbe "Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen" umfasst 111 Pfahlbauten, die sich heute in den Ländern Schweiz, Österreich, Frankreich, Deutschland, Italien und Slowenien befinden. Mit 56 Bauten befindet sich der Großteil der gelisteten Stätten in der Schweiz. Fünf finden sich in Österreich, im Attersee, Mondsee und Keutschacher See – wobei nicht alle Seeufersiedlungen im Land zum Welterbe gehören. Aktuell gelten 27 Fundstellen als wissenschaftlich gesichert, es dürfte aber noch unentdeckte und mittlerweile verschwundene Stellen geben und gegeben haben. 18 Stätten liegen in Süddeutschland, 19 in Norditalien.

Die Bauten liegen im und unter Wasser sowie in Feuchtgebieten, und sie decken einen Zeitraum von etwa 5000 bis 500 v. Chr. ab, reichen also von der Jungsteinzeit bis in die Eisenzeit. Funde bestehen oft aus organischem Material, das durch den geringen Einfluss von Sauerstoff für sein Alter sehr gut erhalten ist. So liefern die Relikte – von Holzproben über Knochen und Keramikfragmente zu Steinwerkzeugen – Hinweise über Alltag und Lebensumstände der Gesellschaften dieser Zeit, die Landwirtschaft betrieben und handwerklich tätig waren.

Initialzündung am See

Viele Fragen sind noch ungeklärt – etwa, wie sich die kulturelle Praxis des Pfahlbautenbauens entwickelt hat. Schon allein der weite Zeitraum zeigt, dass es hier nicht um eine einzelne Pfahlbaukultur geht, sondern wohl um unterschiedliche Populationen und Traditionen. Dennoch interessieren sich Forschende für mögliche Verbindungen und Einflüsse zwischen verschiedenen bauten.

Zu diesem Thema liefert das Forschungsteam nun neue Hinweise. Ihnen zufolge könnte in Isolino Virginia die Initialzündung für die Verbreitung der Pfahlbaukultur in den Alpen stattgefunden haben. Archäobotanische Daten bringen das Inseldorf mit den ersten Schweizer Pfahlbausiedlungen in Zürich und im luzernischen Egolzwil in Verbindung.

Ab den 1950er-Jahren wurden in Isolino Virginia Holzböden und ältere Überreste entdeckt. Pflanzenreste (f) weisen auf Nutzpflanzen hin, die sich sowohl hier als auch bei Schweizer Pfahlbauten in archäologischen Proben wiederfinden (hier: Bestandteile von Nacktgerste und Hartweizen. Auch in Bohrkernen (g) zeigen sich verschiedene organische Schichten.
Fotos: R. Soteras, M. Bertolone, D.G. Banchieri, P. Alemani; Antolín et al., Journal of Archaeological Science: Reports, 2022

Einfluss von Italien auf die Schweiz

Die aus Sedimentkernen geborgenen, mehr als 7000 Jahre alten Pflanzenreste der prähistorischen Siedlung auf dem italienischen Inselchen weisen die gleiche Zusammensetzung von Nutzpflanzen auf, die in den Schweizer Pfahlbausiedlungen angebaut wurden: Hartweizen, Nacktgerste, Schlafmohn und Flachs. Die Forschenden vermuten, dass einige Isoliner mitsamt ihren Nutzpflanzen nach der vorübergehenden Aufgabe ihrer Siedlung nach Norden ausgewandert sind – möglicherweise über das Wallis und Tessin in Richtung Schweizer Mittelland.

Um die prähistorischen Wanderrouten allerdings eindeutig nachzuzeichnen, seien weitere Untersuchungen notwendig, so die Forschenden. Denn bisher unentdeckte Pfahlbaufundstellen, etwa in der Südschweiz und im Rhonetal, könnten dem Bild der geheimnisumwobenen Kultur weitere Mosaiksteine hinzufügen. (sic, APA, 2.3.2022)