Einer tarnfarbenen Drohgebärde gleich bahnt sich seit Tagen ein dutzende Kilometer langer Konvoi aus russischen Militärfahrzeugen, Panzern und anderem schweren Kriegsgerät seinen Weg am westlichen Dnjepr-Ufer in Richtung der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Die ukrainische Armee scheint außerstande, die bedrohliche Kolonne zu stoppen. So dürfte der befürchtete – und für Moskaus Militärstrategen eigentlich längst überfällige – Großangriff auf Kiew unmittelbar bevorstehen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, dessen Ergreifung und Absetzung ein primäres Ziel von Wladimir Putins "Sonderoperation" ist, bittet die Welt derweil vom Kiewer Bunker aus unverdrossen um Beistand.

Eine Woche nach Beginn des völkerrechtswidrigen Einmarschs russischer Truppen in die Ukraine droht nun angesichts des heftigen Widerstands der ukrainischen Armee eine drastische Verschärfung der russischen Gangart. DER STANDARD hat sich bei Fachleuten umgehört, wie es weitergehen könnte. Fest steht: In der Ukraine wird auch ein Krieg um die Köpfe gefochten.

Frage: Warum greifen die ukrainischen Kräfte die riesige russische Militärkolonne nicht an?

Antwort: Weil sie es nicht können. Weder verfügt die ukrainische Armee nach tagelangen Angriffen russischer Truppen über die nötigen Kampfflugzeuge, um den Truppenaufmarsch von der Luft aus zu stoppen, noch über genügend taktische Boden-Boden-Raketen etwa des Typs Tochka-U, die dafür nötig wären. Und auch die dritte Option der ukrainischen Verteidiger, nämlich Angriffe aus dem Hinterhalt, dürfte nicht mehr möglich sein. Warum, erklärt Bundesheer-Oberst Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie: "Nach sieben Tagen Krieg können wir davon ausgehen, dass die ukrainische Luftwaffe ausgeschaltet ist. Nicht nur durch Abschüsse, sondern auch durch die Zerstörung der Logistikeinrichtungen wie Tank- und Munitionslager." Erst wenn sich der russische Konvoi in Angriffsposition begibt, also der Sturm auf Kiew unmittelbar bevorsteht, könnte die ukrainische Armee nach Ansicht Reisners noch einen Angriff mit schultergestützten Raketenwerfern versuchen, weil es dazu räumlicher Nähe zum Ziel bedarf. "Bis dahin können sich die Russen mehr oder weniger ungestört alles bereitstellen."

Der Konvoi auf dem Weg in Richtung Kiew.
Foto: AFP / Maxar

Frage: Wie schnell ist mit einer Entscheidung in Kiew zu rechnen?

Antwort: Das hängt angesichts der russischen Übermacht mehr oder weniger ausschließlich davon ab, wie erbittert der Widerstand der ukrainischen Verteidigung ausfällt. Dem im Westen gängigen Narrativ, der russische Vormarsch sei über die Maße ins Stocken geraten, mag Reisner nicht folgen. Der ursprünglich angestrebte "Enthauptungsschlag" gegen Kiew in den ersten Kriegstagen mag zwar nicht nach Plan funktioniert haben, Moskau habe daraufhin aber die Taktik gewechselt und vor allem im Süden der Ukraine beträchtliche Geländegewinne erzielt. Was Kiew betrifft, trete der Krieg nun in eine neue Phase ein: "Ein wirklich bedenkliches Indiz dafür war der Angriff auf den Fernsehturm am Dienstag, weil man damit die Kommunikation kappen und verhindern will, dass die Bilder des wohl unmittelbar bevorstehenden Angriffs auf Kiew um die Welt gehen."

Frage: Was wissen wir über die Strategie der Angreifer auf Kiew?

Antwort: Viel wird davon abhängen, ob es zu dem befürchteten Häuserkampf in der Hauptstadt kommt. Einen Großangriff von mehreren Fronten aus erwartet Reisner nicht: "Es dürfte immer noch die Absicht der Russen sein, an einer oder zwei Stellen schmal und tief in das Stadtzentrum vorzustoßen, um dort symbolische Ziele zu erobern, etwa ein Regierungsgebäude oder den Maidan-Platz." Breche der Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer rasch zusammen, etwa weil sich die Nachricht vom besetzten Herz Kiews schnell herumspreche, könne der Kampf in ein oder zwei Tagen vorbei sein, vermutet der Oberst. Auch wenn es den Russen gelingt, den zu einer Symbolfigur gewordenen Präsidenten Selenskyj gefangen zu nehmen, könnte dies dem Widerstand einen schweren Schlag zufügen. Reisner: "Die russische Armee wird wohl das Gewaltlevel Schritt für Schritt steigern, bis es für die Bevölkerung und die Armee so unerträglich wird, dass sie die Stadt aufgeben." Falls es nicht so kommt und der Fall Kiews den Widerstandsgeist etwa im Westen der Ukraine sogar noch verstärkt, droht eine weitere Verschärfung des Kriegs durch Russland, etwa der Einsatz der gefürchteten thermobarischen Raketenwerfer.

Panzersperren säumen den Kiewer Unabhängigkeitsplatz, besser bekannt als Maidan. Die Hauptstadt rüstet sich für den Angriff.

Frage: Und wie könnten die Ukrainer dagegenhalten?

Antwort: Grundsätzlich gilt: Je länger die Ukrainerinnen und Ukrainer dagegenhalten, desto größer die Sympathie, die ihnen der Westen entgegenbringt. "Das nützt ihnen, weil sie so vielleicht eine Verhandlungslösung erzwingen können", sagt Reisner. Eine Flächenbombardierung Kiews ähnlich jener der tschetschenischen Hauptstadt Grosny könnte dann sogar China, das sich bisher auffallend zurückhält, zu Kritik an Putin bewegen. Ohne schweres Gerät wird den ukrainischen Verteidigern aber wohl nur mehr eine Option bleiben: Angriffe aus dem Hinterhalt. Weil die russische Armee auf ihrem Vormarsch die meisten Städte bisher umfährt, um schnell in die Tiefe des Landes vorzudringen, könnten sich dort schon bald Widerstandsnester bilden. Die Gefahr, dass die Zivilbevölkerung zwischen die Fronten gerät, ist freilich groß.

Frage: Wie gestaltet sich die Situation außerhalb der Hauptstadt?

Antwort: Die Kämpfe konzentrierten sich zuletzt nach wie vor auf die zweitgrößte Stadt des Landes, Charkiw im Nordosten. In der Millionenstadt meldeten Rettungskräfte erneut Tote nach Bombardements, unter anderem seien der Sitz der Sicherheitsdienste und eine Universität angegriffen worden. Es gebe "praktisch kein Gebiet mehr in Charkiw, in dem noch keine Artilleriegranate eingeschlagen ist", hieß es am Mittwoch aus dem ukrainischen Innenministerium. Auch um Cherson gab es zuletzt heftige Kämpfe, Moskau meldete bereits die vollständige Einnahme, der Bürgermeister der südukrainischen Stadt sprach zunächst von einer vollständigen Umzingelung durch russische Truppen – und warnte vor einer humanitären Katastrophe. Auch die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer stand unter schwerem Beschuss. Nach Angaben des Bürgermeisters erleide die Stadt massive Verluste und eine Unterbrechung der Wasserversorgung, es sei zudem unmöglich, Verletzte aus der Stadt herauszubringen. Auch auf Schytomyr und Borodjanka wurden Luftangriffe gemeldet. Der Bürgermeister von Konotop berichtet von einem Ultimatum der russischen Armee. Kiew warf Russland vor, bei der Invasion bereits mehr als 2.000 Zivilistinnen und Zivilisten getötet zu haben. Moskau betont weiterhin, zivile Infrastruktur nicht anzugreifen. Nach eigenen Angaben hat Russland bei seinem Angriff bisher 498 Soldaten verloren, teilte das Verteidigungsministerium am Abend mit. Die Ukraine, aber auch westliche Beobachter, gehen von höheren Zahlen aus.

Frage: Putin will erklärtermaßen den ukrainischen Präsidenten Selenskyj stürzen. Wen könnte er stattdessen installieren?

Antwort: Dass sich Russland nach einem Sturz der ukrainischen Regierung schwertun wird, den flächenmäßig riesigen Staat sowohl militärisch als auch politisch zu kontrollieren, steht den meisten Fachleuten zufolge fest. Dass sich eine Marionettenregierung praktisch aller demokratischen Ansätze, die in der Ukraine in den vergangenen Jahren aufgebaut wurden, wird entledigen müssen, ebenso. Eine prorussische Regierung in Kiew war schon vor dem aktuellen Krieg nicht mehrheitsfähig, viele Tote und zerstörte Städte später wohl noch weniger. Am Mittwoch geisterte ein Name durch die Twitter-Sphäre, dessen Erwähnung sowohl erwartbar als auch gleichzeitig überraschend ist: Wiktor Janukowytsch. Der ehemalige Präsident der Ukraine von 2010 bis 2014 könnte – den Gerüchten zufolge – von Putins Gnaden erneut ins Amt gehoben werden. Seine Amtszeit endete abrupt, nachdem er seine Unterschrift unter einem zuvor ausgehandelten Assoziierungsabkommen mit der EU unter dem Druck Moskaus zurückgezogen hatte. Was folgte, waren die Maidan-Revolution in der Ukraine und die Flucht Janukowytschs nach Russland. Moskau, das mit Janukowytsch vor acht Jahren seinen damals wichtigsten Verbündeten in Kiew verlor, sinnt nun auf Rache.

Frage: In Belarus wird wieder verhandelt. Welches Ergebnis ist zu erwarten?

Antwort: Am Montag hatte eine Verhandlungsrunde stattgefunden, ohne konkretes Ergebnis. Für Mittwochabend waren weitere Gespräche angekündigt, die sich dann aber auf Donnerstag zu verschieben schienen. Die russische Agentur Itar-Tass meldete, es solle bei den Verhandlungen auch ein Waffenstillstand Thema sein, Russlands Außenminister Sergej Lawrow schlug eine Liste von Waffen vor, die die Ukraine künftig nicht mehr besitzen dürfen solle. Fachleute wie Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck erwarten aber nicht viel, weil wohl keine der beiden Seiten auf ihre Kernforderungen verzichten wird. Moskau gehe es aber eigentlich darum, seiner Bevölkerung zu kommunizieren, "dass man natürlich eine Verhandlungslösung suche und dass man diesen Krieg, der Russland aufgezwungen worden sei, eigentlich nicht wolle". (Florian Niederndorfer, Noura Maan, 2.3.2022)