Die große Flucht aus der Ukraine geht weiter, unter anderem per Bahn. Hier eine Ankunft Vertriebener in der tschechischen Stadt Ostrava in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch.

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Brüssel/Wien -In der Geschichte des Umgangs der EU mit Fluchtbewegungen könnte der Donnerstag ein denkwürdiger Tag werden. In Brüssel trifft sich der Rat der Innenminister, die unter anderem für den rechtlichen Umgang mit Schutzsuchenden verantwortlich sind. Auf ihrer Tagesordnung steht die Beschäftigung mit der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie der Union.

Angesichts von inzwischen mehr als einer Million Ukrainerinnen und Ukrainern, die binnen nur sieben Tagen vor der russischen Invasion ins Ausland geflohen sind, soll sie in Kraft gesetzt werden. Zum allerersten Mal, seit die im Jahr 2001 beschlossen wurde.

Mehrheit der EU-Staaten muss dafür sein

So lautete zumindest der Plan, der im Vorfeld in Gestalt der Sitzungstagesordnung konkretisiert wurde. Möglicherweise gebe es doch noch "politischen Abklärungsbedarf", hieß es am Mittwoch aus dem Umkreis einer daran teilnehmenden Person. Vielleicht werde man die Massenzustrom-Richtlinie doch erst bei einem der folgenden EU-Ratssitzungen aktivieren. Eine Mehrheit der Staaten müsste dafür sein.

Länger mit dem Beschluss zuwarten wäre aber angesichts der dramatischen Fluchtbewegung aus dem von Russland überfallenen Land und den sich daraus ergebenden Herausforderungen für die westlichen Ankunftsländer möglicherweise eine unbotmäßige Verzögerung. "Nie seit den Wirren infolge des Zweiten Weltkriegs, also nach 1945, wurden in Europa in so kurzer Zeit so viele Menschen in die Flucht geschlagen", sagt Ruth Schöffl, Österreich-Sprecherin des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR.

Halbe Million Flüchtlinge in Polen

Sie alle müssen aufgenommen, untergebracht, versorgt und betreut werden, wobei derzeit die direkten Nachbarstaaten der Ukraine die Hauptlast tragen. Stand Mittwoch kamen zwischen 450.000 und einer halben Million Menschen nach Polen, 116.000 nach Ungarn, 67.000 in die Slowakei, 65.000 nach Moldau, 38.000 nach Rumänien. Rund 50.000 Menschen sollen nach Russland gegangen, 72.000 laut UNHCR in andere EU-Länder weitergereist sein. Aus Österreich gibt es keine Ankunftszahlen.

Den Umgang mit dieser riesigen Anzahl hilfsbedürftiger Menschen würde ein Inkraftsetzen der Massenzustrom-Richtlinie EU-weit vereinheitlichen. Die geflohenen Ukrainer und Ukrainerinnen würden in allen Mitgliedstaaten die gleichen Grundbedingungen vorfinden: Aufenthaltsrecht für vorerst ein Jahr, verlängerbar auf bis zu drei Jahre, soziale Absicherung in Gestalt einer Krankenversicherung, die zumindest akute Gesundheitsrisiken abdeckt, Zugang zum Arbeitsmarkt.

Erfahrung aus Jugoslawien-Kriegen

Die so Geschützten wären nicht verpflichtet, in Aufnahmeeinrichtungen oder Asylunterkünften zu wohnen, sondern könnten sich eine eigene Bleibe suchen. Das Stellen eines Asylantrags wäre ihnen nicht verwehrt.

Vereinbart wurde die Massenzustrom-Richtlinie – die ausführlicher "Richtlinie über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen" heißt – nach den Erfahrungen mit den Fluchtbewegungen infolge der Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren. Europäische Staaten hatten damals unbürokratisch viele Vertriebene aufnehmen müssen. Es wurde improvisiert. So kam etwa Ende 1991 in Österreich die Bosnien-de-facto-Unterstützungsaktion zustande, die in groben Zügen der späteren Massenzustrom-Richtlinie entsprach.

Die damals rund 90.000 nach Österreich geflohenen Bosnier und Bosnierinnen mussten kein Asyl beantragen, sondern erhielten stattdessen ein Aufenthaltsrecht. Zwei Drittel von ihnen sollten im Endeffekt hierbleiben.

Richtlinie ohne Aufteilungsregeln

Verbindliche Regelungen zur Aufteilung von Flüchtlingen in den Mitgliedsstaaten der Union enthält die Richtlinie nicht. Dieser Preis musste gezahlt werden, um zu dem Beschluss am 20. Juli 2001 zu kommen. Dass das Regelwerk in der Folge binnen zwanzig Jahren nicht in Kraft gesetzt wurde – auch in den Jahren des großen Flüchtlingszustroms 2015 und 2016 nicht –, wurde unter anderem damit begründet, dass sie für Fluchtbewegungen aus gemischt politischen und wirtschaftlichen Gründen nicht geeignet sei.

Welche Folgen hätte die Aktivierung der Richtlinie nun in Österreich? Auf diese Frage gab es am Mittwoch im für Flüchtlingsangelegenheiten hauptzuständigen Innenministerium noch keine klare Antwort. Die so Geschützten müssten einen entsprechenden Ausweis bekommen, dafür wäre wohl die Polizei zuständig, sagte ein Sprecher. Der Jobzugang wäre über das Arbeitsministerium zu regeln, die Krankenversicherung über die Versicherungsträger.

Diesbezügliche Vereinbarungen, die laut Richtlinientext übrigens möglichst einfach und in der Anwendung unbürokratisch sein sollen, werde man nach der Inkraftsetzung des Regelwerks treffen.

Und was würde man in Österreich tun, so es wider Erwarten doch nicht zu der Aktivierung komme? "In diesem Fall müsste der Fall eines jeden ukrainischen Flüchtlings individuell geprüft werden, ob Gründe für subsidiären Schutz vorliegen", sagt der Sprecher. (Irene Brickner, 3.3.2022)