Mit Spielen wie Pokémon Go und Ingress ist das Unternehmen Niantic in der Nische der Augmented-Reality-Spiele erfolgreich – also Anwendungen, bei denen die physische Realität durch digitale Inhalte angereichert wird. Vergangenes Jahr verkündete man lautstark, dass ebendiese erweitere Realität und nicht die von Mark Zuckerberg proklamierte virtuelle Realität die Zukunft des Metaversums sei. Im Interview mit dem STANDARD erklärt Philip Marz, Head of Marketing für Pokémon GO EMEA, wie man sich das bei Niantic genau vorstellt – und wie die Zukunft dieser Spiele nach der Smartphone-Ära aussehen könnte.

STANDARD: Das Metaverse ist seit Monaten ein Hype-Thema – und Niantic sagt, dass man hier einen anderen Ansatz verfolge als Facebook und ähnliche Unternehmen. Wie sieht Niantics Ansatz konkret aus?

Marz: Wir sehen keine Gesellschaft, die ausschließlich im Metaversum leben wird. Aber das Metaverse kann das bereichern, was wir in der realen Welt um uns haben – wie etwa mit Pokémon Go. Wir sehen das "Real World Metaverse" wie einen TV-Kanal: Man kann einschalten oder auch nicht – und wenn man einschaltet, kann man sich auf dem persönlichen Level dort hinein- und jederzeit wieder hinausbewegen. Dabei kann man zwischen verschiedenen Welten – Ingress, Pokémon Go, Pikmin Bloom – hin und her springen. Und die Welt kann auch zu einem Teil von den Nutzern mitgestaltet werden.

STANDARD: Ich kann aber auch genauso eine VR-Brille auf- und wieder absetzen. Schließt Niantic Virtual Reality weiterhin aus – oder seht ihr eine Mischung aus beidem?

Marz: Für Niantic haben wir bewusst den Fokus auf Augmented Reality gelegt. Wir nutzen das Smartphone, um durch die Augen des Geräts den Zugang in eine weitere Welt zu eröffnen. Denn ein zentrales Element unserer Initiativen ist das Hier und Jetzt, die reale Welt – im Gegensatz zu den VR-Brillen: Wenn ich die aufsetzte, dann verlasse ich das Hier und Jetzt und bekomme meine Umgebung nicht mehr mit. Uns ist es wichtig, dass das Erlebnis noch in der realen Welt stattfindet und ich mich als Individuum dort ausdrücken kann. Das Smartphone ist dabei schon heute ein zentrales Element, das aber durch andere Hardware, wie Augmented-Reality-Brillen, abgelöst werden kann.

STANDARD: Wie groß ist wirklich das Potenzial, andere Hardware als das Smartphone zu verwenden, also etwa AR-Brillen?

Marz: Wenn wir uns die Historie der Technologie-Entwicklung ansehen, dann wissen wir, dass irgendwann auch das Smartphone der Vergangenheit angehören wird. Das erste iPhone wurde 2007 vorgestellt – nun muss man sich die Frage stellen, wo bei Smartphones die Reise technologisch überhaupt noch hingehen soll. In dem Zusammenhang kommt man automatisch zur Annahme, dass es noch etwas anderes geben muss, das AR noch besser ermöglicht als das Smartphone. Was das ist, das muss sich noch zeigen. Aber Glasses könnten solche Devices sein, und wir sind schon in Partnerschaften, in denen wir dieses Thema ergründen. Wir sind noch nicht an einem Punkt, an dem es massenfähig ist, aber es gibt eine Richtung, in die wir ganz bewusst gehen.

So könnte es aussehen, wenn "Pokémon Go" mit einer AR-Brille gespielt wird.
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STANDARD: Die Niantic-Metaversen sind Multiplayer-Spiele, aber ich bin im Gegensatz zu Metas Horizon-Welten oder einem Online-Rollenspiel wie Lost Ark immer allein auf dem Bildschirm. Gibt es Ansätze, dass man auch die Avatare anderer Spieler auf der Karte sieht?

Marz: Niantic legt bewusst den Fokus auf das Erlebnis in der realen Welt und weniger auf das Erlebnis, das im Produkt selbst stattfindet. Wir sagen: Wie kann ich innerhalb des Produktes Trigger setzen, um Menschen in der realen Welt zu verknüpfen, die dann das gleiche Ergebnis teilen? Der Multiplayeraspekt wird anders als bei anderen Spielen – wie zum Beispiel durch gemeinsame Raids – umgesetzt. Das ist auch ein Alleinstellungsmerkmal für Niantic und zeigt, wie wir das Zusammenspiel aus Metaverse und echter Welt sehen: Wir brechen bewusst aus und holen die Menschen in die reale Welt, um sie dann in der digitalen Welt wieder zu vereinen. Und dieses Zusammenspiel findet man auf allen Ebenen und allen Produkten.

STANDARD: Niantic hat vergangenes Jahr ein Metaverse-AR-Kit für Developer namens Lightship vorgestellt. Wie ist hier der Fortschritt? Entstehen hier eigene Produkte mit eurer Technologie oder Add-ons für eure Produkte?

Marz: Sowohl als auch. Das Developer-Kit kann integriert oder als Grundlage genutzt werden, um eigene Produkte zu entwickeln.

STANDARD: Wie kooperiert Niantic sonst, um die eigene Vision des Metaversums voranzutreiben?

Marz: Unsere Lightship-Plattform legt die Grundlage für alles, was wir als Unternehmen anbieten beziehungsweise externen Entwicklern zur Verfügung zu stellen. Zusätzlich haben wir mit Niantic Ventures eine Unternehmung gegründet, die sich ausschließlich darum kümmert, mit Unternehmen zusammen zu kooperieren, die die Entwicklung von AR prägen und definieren. 20 Millionen Dollar Investitionsvolumen sollen die Grundlage dafür legen, nachhaltiges Entwicklungspotenzial für AR zu definieren. An anderer Stelle haben wir Partnerschaften mit Hardware-Entwicklern wie Qualcomm – diese sind langfristiger ausgerichtet, um sicherzustellen, dass das, was wir auf Softwareseite entwickeln, auch mit der Hardwareseite harmoniert. Auf der Technologie- und Kommunikationsseite setzen wir stark auf Netzwerktechnologie. Hier ist es unumgänglich, dass wir mit den Netzwerkbetreibern zusammenarbeiten, um sicherzustellen, wie AR-Erlebnisse, die wir bauen, bestmöglich auf das Smartphone gebracht werden können. Als wir auf einem sehr hohen Level mit Pokémon Go begonnen haben, haben wir das eine oder andere Mal die Kapazitäten der Carrier an ihre Grenzen gebracht – umso wichtiger ist es, zusammenzuarbeiten. Auch weil man durch 5G neue Use-Cases geschaffen hat.

STANDARD: Eine Kritik an den VR-Metaversen sind die Silos, die entstehen – von Meta über Fortnite bis Lost Ark. Im AR-Gaming ist Niantic nicht mehr der einzige Player am Markt, im Vorjahr ist etwa The Witcher: Monster Slayer gestartet. Besteht die Möglichkeit horizontaler Kooperationen, also etwa ein Crossover aus Pokémon und The Witcher?

Marz: Diese Crossover über unterschiedliche IPs und Titel hinweg würden auf jeden Fall der Ambition entsprechen, zu sagen: Man verbindet die Welt und verstärkt den Verschmelzungseffekt zwischen realer und digitaler Welt. Dabei stellt sich aber die Herausforderung, dass der Erfolg eines Produktes stark mit der Marke zusammenhängt, mit der man kooperiert. Und die kooperierenden Marken lassen nicht zu, dass es kein Alleinvermarktungsmerkmal neben dem eigentlichen Produkt gibt. Bei Pokémon Go ist der Partner die Pokémon Company, bei Pikmin Bloom ist es Nintendo. Wenn man diese Markenhäuser in sich betrachtet, dann ist es sehr schwierig, sie aufgrund ihrer Eigenheiten mit anderen Marken gleichwertig nebeneinanderzustellen und sie dann zu verschmelzen – schon allein aus der Markenperspektive. Es ist ein Markenthema, das die Branche grundsätzlich limitiert. In der echten Welt kann man aber natürlich fremdproduktübergreifend Brücken bauen. Wir haben zudem Social-Verknüpfungen, über die man Freunde aus Pokémon Go automatisch nach Pikmin Bloom oder Ingress überführen kann. Das geht aktuell aber nur in unserem eigenen Kosmos. Inwiefern man das perspektivisch stärker auf Fremdprodukte übertragen könnte, um eine neue Social-Plattform zu entwickeln, muss man beobachten. Wir wollen aber auch die Social-Plattform innerhalb des Niantic-Portfolios stärken und aufbauen.

STANDARD: Vorhin haben Sie 5G erwähnt. Wohin geht nun technologisch die Reise? Wie sehen die Niantic-Metaversen mit neuen Mobilfunk- und Hardware-Technologien aus?

Marz: Es wird auf jeden Fall in eine Richtung gehen, die stärker vom Smartphone losgelöst sein wird. Umso wichtiger ist die Frage: Wofür entwickeln wir aktuell die Erlebnisse? Aktuell ist es noch das Smartphone, wir bereiten uns aber auf die Zukunft vor – etwa in puncto AR-Glasses, wo wir eine Zusammenarbeit mit Microsoft haben. Es wird sicher noch weitere Alternativen geben müssen, die am Ende auch massentauglich sind. Denn das macht Niantics Produkte aus: dass sie nicht für Nischen, sondern für Massen gemacht sind, mit sehr niedrigen Eintrittshürden. Grundsätzlich gilt es zu beantworten, ob die AR-Brille schon diese Hardware ist oder ob es noch etwas anderes geben wird. Hier beobachten wir den Markt und versuchen ihn unter anderem durch die zuvor erwähnten Partnerschaften weiterzuentwickeln.

STANDARD: AR-Brillen sind also eine Möglichkeit, aber wir wissen es noch nicht?

Marz: Ja, man kann nur sagen, dass das Smartphone irgendwann der Vergangenheit angehören wird. Was das Smartphone aber ersetzen wird, muss sich noch zeigen. Wir wissen nur: Das Metaverse ist da – wie die Zukunft dessen aussieht, das gilt es noch zu definieren. (Stefan Mey, 5.3.2022)