Nicht einmal ein Energieboykott könnte die Kriegsmaschinerie des russischen Präsidenten Wladimir Putin jetzt noch stoppen, befürchtet der Russland-Experte Vasily Astrov vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche im Gastkommentar.

Eine Menschenschlange vor einem Bankomaten der mehrheitlich vom russischen Staat kontrollierten Sberbank in Moskau.

Ein Wirtschaftskrieg, mit dem Ziel, den Zusammenbruch der russischen Volkswirtschaft herbeizuführen: So beschrieb der französische Finanzminister Bruno Le Maire die massive Verschärfung der Sanktionen gegen Russland, die am Wochenende von den westlichen Staaten einschließlich der Schweiz beschlossen worden war. Wladimir Putins groß angelegter Überfall auf die Ukraine hatte den Westen in seltener Einigkeit zu dieser Reaktion genötigt. Le Maire ruderte in seinen Äußerungen zwar später wieder zurück, nichtsdestotrotz sind die verhängten Sanktionen einschneidend.

Das Einfrieren der Devisenreserven der russischen Zentralbank im Westen im Zusammenspiel mit dem ebenfalls verkündeten Teilausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem Swift bedeutet für den Kreml einen ökonomischen Schock. Bis Mittwoch stürzte der Rubel gegenüber US-Dollar und Euro um rund 50 Prozent ab. Die russische Zentralbank verdoppelte die Leitzinsen in einem beispiellosen Schritt von 9,5 auf 20 Prozent, verhängte weitgehende Kapitalverkehrskontrollen, um den Abzug ausländischer Gelder zu unterbinden, und zwingt seither alle Exporteure dazu, 80 Prozent ihrer Deviseneinnahmen an die Notenbank abzuliefern. Die Moskauer Börse bleibt vorerst geschlossen. Damit wird auf Kriegswirtschaft umgestellt.

Schock, aber kein Kollaps

Russland dürfte zwar in eine tiefe Rezession stürzen, ein ökonomischer Kollaps droht aber nicht, zumindest solange es keinen westlichen Boykott auf die Lieferung von russischem Öl und Gas gibt. Allein aus dem Gashandel mit Europa lukriert der Kreml jeden Tag 350 Millionen US-Dollar. Rund vierzig Prozent des russischen Staatshaushalts stammen aus dem Energiesektor. Momentan profitiert man sogar von den beträchtlich gestiegenen Preisen auf fossile Energieträger. Die wirklich "nukleare" Option gegen Moskau wäre daher ein Energieboykott, wie er etwa gegen den Iran verhängt wurde. Davor schreckt Europa aber bisher zurück, weil es angesichts der enormen Abhängigkeit von russischem Gas, insbesondere in den ostmitteleuropäischen Staaten, aber auch in Österreich, enorme Kollateralschäden zu befürchten hätte.

Schmerzhaft ist für Russland auch das westliche Embargo bei Hightech-Produkten wie Mikrochips oder Maschinen, weil ein Großteil davon importiert werden muss. Dasselbe gilt für Ersatzteile, etwa für Verkehrsflugzeuge. Immer mehr westliche Firmen ziehen sich zudem aus Russland zurück, selbst wenn sie nicht direkt sanktioniert werden. Massive Produktionseinbrüche und halbleere Geschäfte werden die Folge sein. Schon jetzt decken sich die Menschen in großem Stil mit westlichen Haushaltsgeräten, Computern, Handys oder Autos ein, um möglichen Engpässen zuvorzukommen und dem weiteren Verlust ihrer Kaufkraft in Rubel vorzubeugen. Wie bei Swift und im Energiebereich könnte Moskau aber auch bei Hochtechnologie die neuen Sanktionen mit einer stärkeren Hinwendung zu China zumindest teilweise kompensieren. Die Frage ist, ob China hier mitspielen wird oder nicht, um es sich mit dem Westen nicht zu verscherzen.

Russischer "Notgroschen"

Mit dem Einfrieren der russischen Devisenreserven im Westen hatte Putin jedenfalls offenbar nicht gerechnet. Sonst hätte Russland nicht die Hälfte seiner Währungsreserven dort geparkt. Wohl nicht zufällig drohte er nach Bekanntgabe mit seinem Atomwaffenarsenal. Im Gegensatz zum Ausschluss einiger russischer Banken von Swift, der zwar ein Schock für den Außenhandel, aber für Russland mittelfristig verkraftbar ist und vermutlich einkalkuliert war, geht es bei den Währungsreserven um das Herzstück der "Festung Russland".

Damit bezeichnete man den Versuch Moskaus, sich gegenüber neuen Wirtschaftssanktionen teilweise zu immunisieren. Die Zentralbank häufte über die Jahre Reserven von derzeit mehr als 640 Milliarden US-Dollar an, rund 40 Prozent der russischen Wirtschaftsleistung. Damit ließen sich die Importe von zwei Jahren bezahlen. Rund die Hälfte dieses "Notgroschens" wurde durch die koordinierte Aktion der westlichen Regierungen nun unbrauchbar gemacht.

"Im wirtschaftlichen Schlagabtausch zwischen dem Westen und Russland regiert mittlerweile das Prinzip 'Auge um Auge, Zahn um Zahn'."

Diesen schweren Schlag wird Putin nicht unbeantwortet lassen. Das temporäre "Einfrieren" von Beteiligungen westlicher Firmen in Russland – Stichwort Raiffeisen, OMV, BP, Exxonmobil und viele andere mehr – wurde bereits beschlossen, und eine Verstaatlichung steht im Raum. Laut Ex-Präsident Dmitri Medwedew könnte sie als teilweise Kompensation für die eingefrorenen Devisenreserven dienen.

Im wirtschaftlichen Schlagabtausch zwischen dem Westen und Russland regiert mittlerweile das Prinzip "Auge um Auge, Zahn um Zahn". Ob es für den Westen zum Erfolg führen wird, darf bezweifelt werden. Wie das Beispiel Iran, aber auch die 2014 nach der Annexion der Krim gegen Russland verhängten Sanktionen gezeigt haben, war in beiden Fällen die Verhärtung und Konsolidierung des Regimes die Folge.

Es ist zu befürchten, dass leider nicht einmal ein Öl- und Gasboykott Putins Kriegsmaschinerie jetzt noch stoppen kann, weil er offensichtlich einer brutalen machtpolitischen aber keiner ökonomischen Logik folgt. Die Devise ist offenbar, koste es, was es wolle. Wie sagte einst Sigmund Freud sinngemäß: Die Stimme der Vernunft ist leise. In Bezug auf die Wirtschaft scheint sie bei Putin vollkommen verstummt zu sein – zum Schaden der Ukraine, Russlands und der Welt. (Vasily Astrov, 4.3.2022)