Am Bahnhof im polnischen Chełm.

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Am Kiewer Hauptbahnhof verabschiedet sich ein Vater von seinen Kindern, die mit dem Zug aus der Stadt flüchten.

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Scheitern verboten, das war am Donnerstag in Brüssel die Vorgabe der Regierungschefs für die EU-Innenministerinnen und -minister bei deren Sondersitzung zur Lösung der Flüchtlingskrise. Auf dem Tisch lag der Vorschlag, eine bisher noch nie angewendete "Massenzustrom-Richtlinie" der EU anzuwenden, die für alle Staaten Mindestanforderungen bei der Aufnahme Vertriebener vorsieht, von der Versorgung bis zum Recht auf Arbeit. Einige Länder hatten angesichts der hohen Zahl an Geflüchteten Bedenken, was die Verteilung und den Umgang mit Drittstaatsangehörigen betrifft. Auch Österreich. Donnerstagnachmittag gab es dann einen "politischen Beschluss", nur noch juristische Detail sind zu klären.

Frage: Wie wollen die EU-Institutionen und die 27 Mitgliedsländer mit den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine umgehen?

Antwort: Die EU-Kommission hatte sich seit Wochen auf die Möglichkeit einer Flüchtlingswelle im Kriegsfall vorbereitet. Wenige Tage nach dem Angriff russischer Truppen schlug sie den Innenministern vor, die seit dem Jahr 2001 bestehende EU-Richtlinie zum "temporären Schutz" von Vertriebenen anzuwenden. Das ist ein Notfallmechanismus, der eine Sofortaufnahme ermöglichen soll – jenseits der üblichen Asylverfahren.

Frage: Was haben die Innenminister in Brüssel konkret beschlossen?

Antwort: Sie hatten sich bereits am Sonntag in einer Sondersitzung auf das vorgeschlagene Verfahren im Prinzip geeinigt. Der Druck durch das Kriegsgeschehen wuchs täglich. Aber es galt noch, wichtige Details zu klären. Das Recht auf Aufnahme gilt nicht für Drittstaatsangehörige, die sich nur kurzzeitig in der Ukraine aufgehalten haben. Es gibt eine große russische Community, aber auch zigtausend Menschen aus Drittländern, die in diesem riesigen Land mit mehr als 40 Millionen Einwohnern gearbeitet, studiert oder ein Unternehmen geführt haben, die vom Krieg überrascht wurden und alles zurückgelassen haben. Sie gelten als gleichgestellt Berechtigte, wenn sie nicht nach Hause zurückkehren können.

Frage: Was bedeutet das für die geflohenen Menschen konkret?

Antwort: Zunächst einmal erhalten sie sofort Schutz und ein Aufenthaltsrecht in der Europäischen Union. Für ukrainische Bürgerinnen und Bürger ist der Grenzübertritt selbst bereits jetzt rechtlich unproblematisch, da sie ohnehin für maximal 90 Tage visafrei in die EU einreisen dürfen. Nach der neuen Regelung soll die Aufenthaltsgenehmigung zunächst für ein Jahr gelten. Danach kann sie um ein weiteres Jahr verlängert werden, sagte der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Margaritis Schinas, am Donnerstag vor Journalisten in Wien. Daran gekoppelt ist auch der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Arbeitsmarkt und Schuldbildung.

Frage: Was ist der Unterschied zu Menschen, die reguläre Asylverfahren durchlaufen, subsidiären oder humanitären Schutz genießen?

Antwort: Flüchtlinge, die unter die Massenzustrom-Richtlinie fallen, müssen kein individuelles Verfahren durchlaufen, das nach ihren Schutzgründen fragt. Es wird lediglich festgestellt, dass er oder sie jener Kriegs- oder Krisensituation entkommen ist, die zur Aktivierung der Richtlinie in der EU geführt hat. Wer hingegen Asyl beantragt, muss glaubhaft machen, dass er oder sie politisch oder sozial verfolgt wurde. Stellt sich heraus, dass das nicht der Fall ist, kann ihm oder ihr subsidiärer Schutz gewährt werden: ein Abschiebeschutz, wenn im Fall einer Rückkehr Gefahr für Leib und Leben drohen würde. Zuletzt gibt es noch den humanitären Schutz. Er gilt für Menschen, die sich schon sehr gut integriert haben oder aus anderen menschenrechtlichen Gründen nicht zurückkehren können – etwa weil sie mitten in einer Schulausbildung sind. Subsidiären und humanitären Schutz sowie den Schutz laut Massenzustrom-Richtlinie gibt es nur in der EU.

Frage: Gab es schon einmal einen solchen temporären Schutz für Flüchtlinge?

Antwort: Laut der Massenzustrom-Richtlinie, die 2001 beschlossen wurde, nicht. In diese flossen jedoch die Erfahrungen mit nationalen De-facto-Schutzaktionen ein, unter anderem jener, die in Österreich 1991 angesichts des Zustroms von 90.000 Bosnierinnen und Bosniern, die dem Jugoslawienkrieg entflohen waren, vorübergehend eingeführt wurde.

Frage: In puncto Flüchtlingsaufnahme wurde seit Jahren gestritten, ist man sich jetzt einig?

Antwort: Die reguläre Asyl- und Migrationspolitik ist von dieser Notmaßnahme nicht berührt, sie bezieht sich ausschließlich auf den Krieg in der Ukraine. Das heißt: Der Streit um eine Umsetzung des Migrationspakets, die Harmonisierung der Asylverfahren in EU-Staaten und die Verteilung auf die Länder wird dadurch nicht leichter, eher schwerer.

Frage: Wie werden die Ukraine-Flüchtlinge auf die Länder aufgeteilt?

Antwort: Gar nicht. Zumindest nicht nach einem gesetzlich verankerten Schlüssel, so wie das in dem 2015 beschlossenen – und nie umgesetzten – Plan zur Erfüllung von Aufnahmequoten in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten vorgesehen war. Der Vorschlag aus Brüssel enthalte "kein Element von Umverteilung", sagte Kommissionsvize Schinas. Menschen, die auf Basis der neuen Regelung Schutz genießen, würden sich gewissermaßen "selbst verteilen", könnten selbst entscheiden, wo sie leben wollten. Sie können sich in der EU frei bewegen. Sollte es dabei zu "Ungleichgewichten" unter den EU-Staaten kommen, wolle man wie bereits jetzt auf freiwillige Verteilung setzen.

Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) sagte am Donnerstagabend in der "ZiB2": "Es ist ein Faktum und keine Frage der Fairness, dass die Staaten, die an die Ukraine angrenzen, jetzt die größte Last tragen, aber wir alle wollen hier beitragen, dass diese Last verteilt wird."

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Frage: Wie lange können die Flüchtlinge bleiben? Müssen sie zurückkehren, wenn der Krieg vorbei ist?

Antwort: Der Schutz ist laut der Richtlinie temporär und endet dann, wenn im Heimatland wieder friedliche Zustände herrschen. Entschieden wird darüber im EU-Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit. Von den rund 90.000 Bosniern und Bosnierinnen, die in den 1990er-Jahren im Rahmen der weiter oben erwähnten De-facto-Schutzaktion in Österreich lebten, blieben im Endeffekt jedoch zwei Drittel fix im Land.

Frage: Wer versorgt sie?

Antwort: Der Aufnahmestaat, wobei auch Unterstützung vom Arbeits-, Migrations- und Integrationsfonds der EU möglich ist. Laut der Massenzustrom-Richtlinie haben Flüchtlinge das Recht auf "die notwendige Hilfe in Form von Sozialleistungen und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts". Wie das in Österreich konkret gestaltet wird, ist noch unklar.

Frage: Warum dürfen sie sofort arbeiten?

Antwort: Der rasche Zugang von Richtlinien-Flüchtlingen zum Jobmarkt setzt auf deren Selbsterhaltungsfähigkeit. Wer kann, soll arbeiten, das hat wirtschaftliche Vorteile für den Aufnahmestaat – und psychosoziale für die Flüchtlinge selbst.

Frage: Es kommen vor allem Frauen mit Kindern, was passiert mit den Kindern?

Antwort: Sie gehen im Aufnahmestaat in die Schule, so sie im Schulalter sind – in Österreich etwa herrscht im Pflichtschulalter Unterrichtspflicht.

Frage: Wie viele Flüchtlinge sind schon gekommen – und in welche Länder?

Antwort: Seit Beginn des Krieges sind in nur sieben Tagen eine Million Menschen geflohen, teilte UN-Hochkommissar Filippo Grandi in der Nacht auf Donnerstag mit. Allein in Polen sind nach Angaben des dortigen Grenzschutzes mehr als 575.000 Flüchtlinge angekommen. Betroffen sind vorerst vor allem die westlichen Nachbarländer der Ukraine – insbesondere Rumänien, aber auch Ungarn, die Slowakei oder die Republik Moldau, die kein Mitglied der EU ist. (3.2.2022)