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Ein provisorisches Flüchtlingslager im ungarischen Tiszabecs.

Foto: Reuters / Bernadett Szabo

Das Kommen und Gehen in der Volksschule der nordostungarischen Grenzgemeinde Tiszabecs nimmt kein Ende. Stetig treffen Busse ein, die Geflohene aus der Ukraine bringen. Helfer in den gelben und orangefarbenen Jacken des Hilfswerks der ungarischen Baptisten empfangen sie mit Speisen und Getränken. Hier können sie sich im Warmen ausruhen, eine Nacht im improvisierten Schlafquartier verbringen, zu dem der Turnsaal umfunktioniert wurde. Die Helfer organisieren notfalls dauerhaftere Unterkünfte, aber auch Transportfahrten ins Landesinnere. Hilfslieferungen mit Lebensmitteln, Kleidung, Decken und anderem Notbedarf treffen ständig ein.

In der Volksschule wurde ein großes Erstaufnahme- und Logistikzentrum eingerichtet. Jewgenija, Mitte 20, kam mit ihrer betagten Großmutter am Donnerstag an. Sie kommt aus Charkiw. "Die Raketen- und Bombeneinschläge kamen immer näher, auf den Straßen hörten wir Schüsse", erzählt Jewgenija, die als Journalistin arbeitet.

Schule im Ausweichquartier

Immer mehr Zeit verbrachte sie mit ihrer Großmutter im Bunker. Nach fünf Tagen entschieden sich die beiden Frauen zur Flucht. "Wenn du jetzt kein Kämpfer, kein Soldat bist, musst du sehen, dass du überlebst." Ihre Schildkröte nahm sie mit, sie hofft inständig, dass das kleine Tier die lange Reise übersteht. Die beiden Frauen wollen weiter nach Deutschland. Jewgenijas Eltern leben bereits dort. Wie lange sie dortbleiben werde? "Bis Frieden ist." Und dann fügt sie noch hinzu: "Putin ist ein Wahnsinniger."

"Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung ist enorm", berichtet Szilvia Révész, die Sprecherin des Hilfswerks der Baptisten. "Aus dem ganzen Land melden sich Menschen, die bereit sind, ukrainische Familien aufzunehmen." Die Gemeinde Tiszabecs stellte die geräumige, moderne Schule zur Verfügung, der Unterricht für die örtlichen Kinder findet in Ersatzgebäuden statt.

Fast nur Frauen und Kinder

Immer wieder gilt es, neue Probleme zu lösen. "Wir bräuchten Handy-Ladestationen", wirft eine Mitarbeiterin ein. "Und das Internet müsste verstärkt werden." Eine krebskranke alte Frau brauche medizinische Hilfe, kommt es von einer anderen Helferin. Der Notarzt wird gerufen.

Wegen der Wehrpflicht für Männer zwischen 18 und 60 Jahren kommen fast nur Frauen und Kinder. Die meisten erreichen mit dem Zug einen Bahnhof auf der ukrainischen Seite und gehen dann zu Fuß über die Staatsgrenze. Sehr viele werden von Verwandten oder Freunden abgeholt, die in Polen, Tschechien oder sonst wo leben.

Die Solidarität beschränkt sich nicht nur auf Ungarn. In Tiszabecs sind auffallend viele Fahrzeuge mit tschechischem Kennzeichen zu sehen. Vier Männer und eine Frau entladen im Hilfszentrum einen Lieferwagen. "Wir sind von der Brauerei in Pilsen", sagt Petr. "Unsere Kollegin hier ist ukrainischer Herkunft. Wir hörten, dass hier Sachen gebraucht würden. So haben wir gesammelt, den Wagen vollgepackt und sind hierhergekommen."

Vor dem Zentrum warten indes fünf Kleinbusse. "Ich bin jetzt das zweite Mal hier", sagt der Arzt Pavel Kasal, einer der Fahrer. Angefangen habe es damit, dass man Angehörige von ukrainischen Krankenhauskollegen abgeholt habe. Jetzt nehme man mit, wer auch immer eine Fahrgelegenheit nach Tschechien braucht. "Eine Richtung sind 1000 Kilometer, etwa zehn Stunden, aber die Not ist groß."

Spontane Unterstützung

Am Grenzübergang bei Tiszabecs herrscht Betriebsamkeit, aber kein großes Gedränge. Auf der ukrainischen Seite stauen sich Autos und Menschen, Wartezeiten von vielen Stunden sind die Norm. Auf der ungarischen Seite fahren jene Ukrainer, die mit dem eigenen Wagen gekommen sind, meist rasch durch. Aber auch hier stehen Abholer, die auf Menschen warten, die zu Fuß kommen. Freiwillige haben einen Tisch mit Sandwiches und Getränken aufgestellt, um jene zu laben, die es benötigen.

Dalma Teveli (26) aus Budapest hat sich am Vortag mehr oder weniger spontan entschlossen, mit einer Freundin hierherzukommen. "Ich bin schon 2015 am Budapester Ostbahnhof gestanden, als wir den Flüchtlingen aus Syrien, Irak und Afghanistan halfen." Sie sei schon als Jugendliche politisch aktiv gewesen, etwa bei der Organisation von Studentenprotesten in Budapest. "Ich sehe hier nur die Zivilgesellschaft, kirchliche Organisationen wie die Baptisten, die NGOs oder spontane Freiwillige. Und auch die Gemeinden tun etwas", konstatiert sie.

Der Staat ist "seltsam abwesend"

Der Staat, dessen Geschicke der machtbewusste rechtspopulistische Ministerpräsident Viktor Orbán lenkt, gebe sich seltsam bedeckt. "Man kann sagen, der Staat organisiert die Grenzabfertigung, er stellt auch die Busse bereit, und es gibt Freifahrt bei der Eisenbahn für die Geflohenen", fasst Dalma zusammen. "Kann sein, dass im Hintergrund dies und jenes koordiniert wird. Aber vom Katastrophenschutz und vom Militär sehen wir derzeit so gut wie nichts." (Gregor Mayer aus Tiszabecs, 3.3.2022)