Nach-Erinnerung: Sabine Scholl.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Sabine Scholl ist mit ihrem Roman Die im Schatten, die im Licht eine überzeugende und spannend zu lesende Antwort auf die Frage, "wie Geschichte in Literatur verwandelt wird" – so der Untertitel ihres neuen Essaybands Lebendiges Erinnern – gelungen. Als Angehörige der Nachfolgegeneration verfolgt sie das Konzept der sogenannten Postmemory, also der Recherche und Nach-Erinnerung.

"Gerade die Leerstellen des Erinnerns fordern Autorinnen dazu auf, geschichtliche Ereignisse mit fiktionalen Mitteln zu rekonstruieren" und erweiterten so das historische Gedächtnis literarisch, heißt es in der Einleitung ihres Essaybands. Im neuen Roman legen das Quellenverzeichnis und der Hinweis, dass der Text von historischen Vorbildern und Dokumenten inspiriert ist, die "literarische Ausgestaltung allerdings der künstlerischen Freiheit der Autorin überlassen ist", dieses ästhetische Konzept offen.

Sabine Scholl, "Die im Schatten, die im Licht", Roman. 24,95 Euro / 352 Seiten. Weissbooks, 2022
Cover: Weissbooks

Neun Fragmente weiblicher Biografien werden abwechselnd in vier Kapiteln erzählt: Unheil 1938/39, Krieg 1941, Widerstand 1944, Testamente 1946. Die eingeschränkten Spielräume der Frauen reichen von der Mittäterschaft als Lageraufseherin bis zur Widerstandskämpferin im Salzkammergut. Sabine Scholl beschränkt sich auf Bruchstücke in diesen Jahren, nicht zuletzt deshalb, weil es in Berichten und Dokumenten viele Leerstellen und Aussparungen gibt.

Die erfundenen Vornamen Francine, Kitty, Lotte, Huberta, Elsa, Vera, Gretel, Traudi und Rosi betiteln die lose nebeneinandergestellten Momentaufnahmen. Ein Personen- und Ortsverzeichnis dient als Orientierungshilfe und verweist auf Handlungsräume von Grieskirchen, Geburtsstadt der Autorin, bis Schanghai, Frankreich und die USA.

Wegschauen und Mitmachen

Angereichert mit fiktiven Details verfremdet Sabine Scholl die realen Lebensgeschichten der Vorbilder, denn es geht nicht um die Rekonstruktion von Geschichte, sondern um weibliche Lebensentwürfe in Kriegszeiten, die vom Wegschauen und Mitmachen bis zu Verfolgung und Flucht reichen. Immer wieder geht es um die Bewältigung des Alltags- und Familienlebens in Kriegszeiten, aber auch um die Diversität, je nachdem, ob die Frauen im Schatten oder im Licht standen.

Das jüdische Mädchen Lotte erlebt die Ausgrenzung der Kaufmannsfamilie in Linz, die Flucht mit dem Schiff nach Schanghai, wo sie zunächst sogar ihren Traum als Tänzerin auf einer Bühne erfüllen kann und als "Little Gretel" das finanzielle Überleben der Familie sichert. Der Vater stirbt im Exil, Mutter und Tochter brechen 1946 nach Palästina auf, weil die Mutter "so müd ist vom Verfolgtsein".

Die arbeitslose Schneiderin Gretel hofft wie ihre Freundinnen "auf eine Zukunft" und meldet sich als Aufseherin für ein Lager in der Nähe von Linz. Wie ihre Kolleginnen wird sie nach Kriegsende von den Amerikanern zwar verhört, aber nicht verurteilt. "Seitdem ist es so, als wäre nie was passiert. Jeder will nach dem Krieg nur seine Ruhe." Sie fühlt sich nicht als Mittäterin, sondern als Opfer und richtet sich wieder eine Werkstatt ein: "Nach dem Krieg wollen die Leute frisch anfangen und bestellen wieder."

Sabine Scholl, "Lebendiges Erinnern. Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird". 20,– Euro / 230 Seiten. Sonderzahl, 2021
Cover: Sonderzahl

Historische Vorbilder

Für die Figur von Francine gibt es als historisches Vorbild die erfolgreiche französische Schauspielerin Arletty, die unter ihren Liebhabern einen deutschen Offizier hat, der sie zur Verräterin in Frankreich macht. Die Biografie von Stephanie von Hohenlohe, die sich ihren Adelstitel erheiratet und 1938 von Goebbels und Hitler als neue Gastgeberin in das Schloss Leopoldskron, das Max Reinhardt im Zuge der Arisierung geraubt wurde, berufen wird, stand Pate für die Figur von Huberta. Sabine Scholls Recherchen – wunderbar auch die Zitate aus populärer Musik der Zeit – regen zu weiteren Erkundungen ihrer Vorbilder an.

Sabine Scholl wählt für ihr Mosaik des weiblichen Gesichts des Zweiten Weltkriegs verschiedene Möglichkeiten des Umgangs mit dokumentarischem Material, die vom auktorialen Erzählen bis zur kommentarlosen Transkription einer Tonbandaufnahme reichen, etwa im Fall der Figur Kitty, bei deren Lektüre man Gänsehaut bekommt.

Bei der Beschreibung der aristokratischen Vera werden Tagebuchpassagen und Briefe eingestreut. Welche Rolle sie in der Organisation des Widerstands hatte, erwähnt der Ehemann nicht. Und die Widerstandskämpferin Rosi resümiert ihre Aktivitäten im Ausseerland im dialektalen O-Ton: "So sind wir Frauen nach und nach zu Schatten worden."

Ihr Unbehagen über das Schweigen hat Sabine Scholl literarisch produktiv gemacht, denn sie weiß, dass sich die weiblichen Erfahrungen von den "Randzonen des Kriegsgeschehens" in die Körper und Lebensgeschichten der nachfolgenden Generationen eingeschrieben haben, auch wenn in der eigenen Familie über die Vergewaltigung der Großmutter nicht gesprochen wurde.

Besonders beeindruckend ist es, dass es Sabine Scholl in ihrem Roman Die im Schatten, die im Licht gelingt, die vielfältigen weiblichen Stimmen mit Empathie zu präsentieren und lebendig zu machen. Dass wir auch zwei Generationen danach mit der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und seiner Spätfolgen beschäftigt sind, wie Scholl in ihrem Essay Frauen im Krieg feststellt, erscheint angesichts des neuen Krieges in Europa noch einmal bedrückender. (Christa Gürtler, ALBUM, 7.3.2022)