Am Strand von Lubmin suchen viele Erholung. Von den Gasröhren ist nichts zu sehen.

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Die Kinder von Lubmin haben einen Spielplatz, von dem andere nur träumen können. Beim Rutschen und Schaukeln schauen sie durch hohe Kiefern auf die tintenblaue Ostsee.

Ruhig liegt diese vor dem kleinen Badeort in Mecklenburg-Vorpommern. Nichts ist zu sehen von der umstrittenen Röhre, die das 2000-Einwohner-Dorf mit seinen weißen Sandstränden in die Weltpolitik katapultiert hat.

Denn dort, 180 Kilometer nördlich von Berlin, endet die umstrittene nigelnagelneue Gaspipeline Nord Stream 2. In Lubmin, wo Urlauber und Urlauberinnen im Strandkorb leuchtend orange Sanddorn-Drinks zu sich nehmen, hätte das Gas nach seinem 1230 Kilometer langen Weg aus Russland durch die Ostsee in Deutschland anlanden und von dort nach Westeuropa verteilt werden sollen.

Doch so wird es nicht kommen. Zwar ruht die Pipeline fertig auf dem Meeresgrund. Aber der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine den noch laufenden Zertifizierungsprozess aussetzen lassen.

Und das könnte sich bis auf den Spielplatz von Lubmin auswirken. "Wir tragen diese Entscheidung natürlich mit. Putin muss in die Schranken gewiesen werden", sagt Lubmins Bürgermeister Axel Vogt (parteilos) und fügt hinzu: "Das ist im Moment das Allerwichtigste."

Aber natürlich haben sie schon gerechnet in Lubmin. Zwei Millionen Euro an Gewerbesteuern werden dem Ort entgehen, wenn die Pipeline nicht in Betrieb geht. Das ist ein Viertel seiner Einnahmen.

"Wir müssen neu kalkulieren", erklärt Vogt, man werde sich nicht mehr alles leisten können. Die Sanierung der Straßen, ein neues Heimatmuseum, die Neugestaltung des Ortsplatzes und eben des Kinderspielplatzes – das werde jetzt erst einmal hintanstehen müssen. Erneut betont Vogt: "Aber wir jammern nicht. Die Frage der Gewerbesteuern ist im Moment wirklich zweitrangig."

So sieht es auch Irma Regent. Sie steht auf der Seebrücke in der Sonne und wirft ihren Apfelbutz ins ruhige Meer. Sofort stürzen sich Möwen darauf und kämpfen darum.

"Ich bin ein Kriegskind, geboren 1942", sagt sie. "Krieg ist das Schrecklichste überhaupt. Was sind da schon ein paar Gewerbesteuern dagegen?" Das Thema regt sie auf. "Dann werden wir eben auf einiges verzichten, wir leben dennoch gut hier. Unsere Straßen werden schon nicht zusammenbrechen."

Zahlungsschwierigkeiten

Zunächst hatte es Berichte gegeben, wonach Nord Stream 2 bereits insolvent sei. Seinen Sitz hat das Unternehmen im schweizerischen Zug. Dessen Regierungsrätin, Silvia Thalmann-Gut, sprach erst von Konkurs, erklärte dann aber am Mittwoch dieser Woche: "Uns ist bekannt, dass Nord Stream 2 mit enormen Zahlungsschwierigkeiten zu kämpfen hat. Das Unternehmen hat bis zum jetzigen Zeitpunkt keinen Konkurs beim Zuger Handelsregisteramt angemeldet."

Allerdings wurden Mitarbeiter gekündigt, auch jene 15, die in Lubmin auf der verwaisten Anlandestation arbeiteten, wie Vogt berichtet. Die Anlandestation liegt einige Kilometer östlich des Dorfes im Industrie- und Gewerbegebiet. Ein Gewirr von Röhren ist zu sehen, und noch etwas anderes: die Reste des größten Kernkraftwerks der DDR.

Energie der Vergangenheit

VE Kombinat Kernkraftwerk Bruno Leuschner, hieß es, benannt nach einem SED-Politiker. Nach der Wende wurde es stillgelegt, heute steht es als Sinnbild für eine Art der Energieversorgung, die nicht mehr gewünscht wird. Nicht nur die räumlichen Parallelen liegen in Lubmin auf der Hand.

Dabei galt der Ort einmal als Sinnbild für die deutsch-russische Partnerschaft. Schaut man ins Archiv, so findet man Bilder aus dem Jahr 2011, die wie aus einem anderen Jahrtausend anmuten.

Merkel am Gashahn

Fröhlich lächelnd drehen die damalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der damalige Präsident Dmitri Medwedew gemeinsam in Lubmin den Gashahn zur Eröffnung von Nord Stream 1 auf. Daneben steht ein zufriedener Gerhard Schröder. Er hatte 2005 den Bau der ersten Pipeline – Nord Stream 1 – mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin eingefädelt.

Unter Merkels Kanzlerschaft wurde das Projekt dann erweitert, der Bau der Doppelröhre von Nord Stream 2 begann im Jahr 2015. Im Juni 2021 wurden die Verlegearbeiten des ersten Stranges beendet, im September 2021 jene des zweiten.

So lange wie das Gas durch Nord Stream 1 nach Lubmin gelangt, so lange ist auch Essam Gad in Lubmin. Der Ägypter betreibt an der Seebrücke ein Lokal samt Souvenirecke. Gummischlapfen mit kleinen Ankern, Kaffeetassen und Holzmöwen warten schon auf die Touristen. Wenn der Frühling kommt, werden sie wieder verstärkt anreisen.

Gürtel enger schnallen

"Man kann nicht immer mehr und mehr wollen. Frieden ist das Wichtigste", meint Gad zum Aus für Nord Stream 2. Im Fernsehen hat er Bürgermeister Vogt gesehen, als dieser erklärte, man werde den Lubminer Gürtel enger schnallen müssen. Gad zuckt mit den Schultern: "So ist es eben."

Doch er weiß, dass es im Ort nicht alle so sehen: "Wir haben gerade Corona hinter uns. Viele hier in der Gastronomie und im Tourismus haben aufgeben müssen." Und der Ort hat ja gut gelebt vom russischen Gas bisher, nicht nur der Gewerbesteuer wegen. Vermieter und lokale Firmen profitierten während des Baus der Röhre. Gazprom, die Mutter von Nord Stream 2, stattete Schulen mit Computern aus.

Daran erinnert sich Dieter Schult noch gut und gern. Der Lubminer bedauert das Aus für Nord Stream 2: "Das nützt der Ukraine doch gar nichts in ihrer jetzigen Lage", sagt er, "aber wir brauchen das russische Gas." Er möchte auch die Steuergelder nicht missen: "Unser Ort ist in den vergangenen Jahren immer schöner geworden, viele Straßen wurden saniert, und es gibt noch viel zu tun."

Touristen hingegen finden in Lubmin nicht nur die geduckten Reetdachhäuser hübsch. Vielen gefällt auch, dass manche noch an kleinen Sandstraßen stehen. Es erinnert an die gute alte Zeit und an sorglose Sommerfrische.

Neue Heizung

Im Garten eines Hauses ragt aus der frischen Erde ein gelber Schlauch. Davor fegt die Besitzerin den Gehweg. "Schauen Sie, gerade haben wir unsere Ölheizung rausgeworfen und auf Gas umgestellt", sagt sie und deutet auf die sichtbaren Überbleibsel des Wechsels.

Dann meint sie etwas missmutig: "Aber das passt jetzt offenbar auch wieder nicht." Dass sie mit ihrer neuen Anlage bald auf dem Trockenen sitzen könnte, fürchtet sie nicht. Aber: "Es ist doch Wahnsinn, dass Nord Stream 2 gestoppt wurde. Da liegen jetzt Milliarden an Investitionen sinnlos am Meeresgrund."

DER STANDARD

Die rund 9,5 Milliarden Euro teure Pipeline gehört dem russischen Gaskonzern Gazprom, die Finanzierung hatten aber zur Hälfte mehrere Öl- und Gaskonzerne, darunter auch die OMV, übernommen. Als erster Beteiligter entschied sich nun Wintershall Dea, seinen Anteil von einer Milliarde Euro abzuschreiben.

Blick auf die erste Röhre

So weit will Bürgermeister Vogt gedanklich nicht gehen: "Es wurde viel Kraft und Zeit in dieses Projekt gesteckt. Wir hoffen natürlich, dass sich die Lage wieder beruhigt. Dann kann Nord Stream 2 vielleicht doch noch eines Tages in Betrieb gehen."

Eines mag Vogt sich nicht vorstellen: dass auch Nord Stream 1 sanktioniert werden und ausfallen könnte. In diesem Fall gäbe noch weniger Gas, und Lubmin würde weitere Millionen verlieren. Doch so weit ist es noch nicht. Noch ist diese Röhre auf dem Meeresboden in Betrieb.

Begrüßt wird sie übrigens, wie alle Besucherinnen und Besucher, von Lubmine. Das Maskottchen des Seebades hat Zöpfe und ein freundliches Gesicht. Gehalten ist Lubmine in Blau und Gelb. Das sind nicht nur die Farben der Ukraine, sondern auch jene von Lubmin.(Birgit Baumann aus Lubmin, 6.3.2022)