Beim ÖVP-Bundesparteitag am 14. Mai will ÖVP-Chef Karl Nehammer eine programmatische Grundsatzrede halten.

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Die Frühlingssonne brennt auf den Wiener Ballhausplatz, Vögel zwitschern, auf dem Dach des Kanzleramts hängen zwei Fahnen schlapp an ihren Masten, es ist windstill. Noch. Kanzler Karl Nehammer sitzt elf Autominuten entfernt in der Rossauer Kaserne, dem Sitz des Verteidigungsministeriums. Er bespricht sich mit seinem – von ihm so benannten – Krisenkabinett. Es ist Donnerstag, es herrscht Krieg in Europa; seit genau einer Woche. Der Kanzler hat seit Tagen kaum geschlafen. Er ist müde, wirkt dadurch aber nicht gereizt, eher tranig. Ihm passiert ein Fauxpas.

Dem Krisenkabinett gehört auch der grüne Vizekanzler an. Werner Kogler hat Nehammer bereits in den Tagen zuvor informiert, dass Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein zurücktreten will. Jetzt erzählt der Grünen-Chef dem Kanzler, dass Mückstein den Abgang noch heute verkünden wird. Sie verlassen den Besprechungsraum, Nehammer tritt vor die Medien und bestätigt die bevorstehende "persönliche Erklärung" des Gesundheitsministers. De facto gibt er damit Mücksteins Rücktritt bekannt – ein paar Minuten bevor die Grünen den Schritt selbst ankündigen wollten. Beim kleinen Koalitionspartner fanden das einige gar nicht amüsant.

Weniger Pomp und Inszenierung

Im Grunde stellt der Vorfall nicht mehr als einen kleinen Patzer dar, aber er erzählt etwas über Karl Nehammer: Wäre dasselbe seinem Vorvorgänger Sebastian Kurz passiert, viele wären sich sicher gewesen, es muss sich um ein fieses taktisches Manöver handeln, mit dem die Grünen ausgebootet werden sollten. Bei Nehammer stellt diese Vermutung so niemand an.

Gerade in Abgrenzung zu Kurz will sich der neue Kanzler möglichst wenig in Szene setzen; kaum Pomp, keine leicht zu entlarvende Inszenierung, nicht so aalglatt wirken, sondern ein echter Mensch mit Kanten sein. Er tritt deshalb eben auch einmal etwas unbedacht vor Journalisten.

Ähnliche Hülle, aber doch sehr unterschiedlich: Karl Nehammer und sein Kanzler-Vorvorgänger Sebastian Kurz.
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Vor dem Kanzleramt stehen inzwischen zwei Frauen und grübeln, ob die eine Fahne dort oben auf dem Dach wohl die ukrainische ist, die gehisst wurde. "Hat er sich das jetzt getraut?", fragt die Jüngere und meint offenbar Nehammer. "Wär ein schönes Symbol." Blau ist der Stoff jedenfalls, vielleicht auch gelb – wie eben die Flagge der Ukraine. Ein Windstoß, sie segelt hoch: Darauf sind dann doch nur die Sternchen der Europäischen Union zu sehen.

Die Frauen zucken mit den Schultern und setzen enttäuscht ihren Spaziergang fort. Immerhin das Heldentor wird derzeit abends in den Farben der Ukraine bestrahlt. Kurz hatte aus Solidarität einst die Flagge Israels hissen lassen. Nehammer, heute Kanzler des immerwährend neutralen Österreichs, hat in den vergangenen Tagen aber jedenfalls überraschend klare Worte für die russische Invasion gefunden. Sein Auto fährt am Ballhausplatz vor.

Nehammers Definitionsproblem

Nehammer hat sich zuletzt als "Leader" geriert – oder zu Deutsch: als klassischer Staatsmann. Die meisten Grünen sprechen nur in den höchsten Tönen von ihm. Er sei ein Managertyp, ein Verbinder, und das sei wichtig, gerade in so unsteten Zeiten wie jetzt.

Nehammer hat dennoch ein Definitionsproblem. Als er im Dezember angelobt wurde, waren der Lockdown und die Impfpflicht bereits verkündet. Seither taumelt die Regierung durch die Pandemie. Die geplante Impflotterie ist gescheitert, an der Impfpflicht wurde von allen Seiten heftig gerüttelt – ob sie jemals ernsthaft umgesetzt wird, ist weiterhin unklar.

Gleichzeitig steckt die ÖVP durch Ermittlungen, den Korruptionsverdacht und den Abgang von Kurz in einer tiefen Krise. Und seit Nehammers Machtübernahme wurde kein größeres Projekt verwirklicht, das er sich auf die Fahnen schreiben könnte. Er lebt derzeit davon, im richtigen Moment die richtigen Worte zu finden, hat aber eigentlich kein Thema, das man mit ihm verknüpft.

Natürlich arbeiten seine Strateginnen und Strategen daran, das zu ändern. Die Frage nach Nehammers inhaltlichem Profil beschäftigt aber nicht nur die ÖVP und sein Kabinett, sondern auch die Grünen. Lange war die Angst beim kleinen Koalitionspartner, er könnte sich auf den Komplex Migration stürzen; wieder den Hardliner geben wie einst als Innenminister – was für Schwarz-Grün zum Drahtseilakt würde.

Durch den russischen Angriff auf die Ukraine hat sich hier aber der Fokus verschoben. Die Ukraine wird auch in der ÖVP als Nachbarin betrachtet, der es zu helfen gilt. Flüchtlinge von dort lassen sich selbst von waschechten Rechten schwer zum Feind stilisieren.

Werner Kogler und seine Grünen sprechen von Nehammer derzeit nur in den höchsten Tönen – das kann sich aber auch schnell ändern.
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Moderne Möblage aussortiert

Nehammer sitzt am Besprechungstisch seines Büros. Der Kanzler ist noch nicht ganz drei Monate lang im Amt, aber eingerichtet hat er sich – und zwar im Kreisky-Zimmer. Kurz stellte seinen Schreibtisch im Jahr 2017 erstmals wieder in diesen dunklen, holzvertäfelten Raum des Kanzleramts. Seine Vorgänger hatten seit Wolfgang Schüssel im freundlicheren Metternich-Zimmer mit Blick auf den Volksgarten residiert.

Alexander Schallenberg, jetzt wieder Außenminister, wagte es bei seinem Zwischenspiel am Ballhausplatz nicht, den Platz von Kurz einzunehmen, und setzte sich ins Nebengemach. Nehammer nun, und das ist durchaus als Statement zu verstehen, hat wieder das ehemalige Büro des jungen Altkanzlers bezogen – aber dessen moderne Möblage rausgeworfen.

In dem ehrwürdigen Raum steht jetzt wie einst der schwere Holzschreibtisch von Julius Raab, der bis heute letzte schwarze Niederösterreicher im Kanzleramt. Am Boden liegt dazu passend ein Perserteppich; die zeitgenössische Kunst von Kurz wurde durch großformatige Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom Tag der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags ersetzt. Nehammer trägt einen dunkelblauen Anzug, eine blitzblaue Krawatte und wie immer Zweitagebart.

STANDARD: Eigentlich weiß man inhaltlich kaum, wofür Sie als Kanzler stehen. Was halten Sie abseits der Krisen denn für das wichtigste Thema für Österreich?

Karl Nehammer: Mir geht es um diesen Bogen des Lebens der Menschen, von der Geburt bis ins hohe Alter. Da gibt es verschiedene Stufen, wo Staat und Gesellschaft funktionieren müssen. Das beginnt beim Vorgang der Geburt mit einer sicheren Umgebung und guter medizinischer Versorgung. Das geht weiter mit Bildung – vom Kleinkindalter an und im Fall bis zur Hochschule. Dann kommt die Arbeitswelt, das Thema Familiengründung, und irgendwann sind wir vermutlich alle auf Pflege angewiesen. Da gibt es zahlreiche Themenfelder, die wir politisch angehen müssen. Sei es die Pflegereform oder der Sicherheitsbereich.

Das klingt alles noch reichlich vage. Stichtag für Nehammers thematische Auferstehung ist laut Strategieplan aber auch erst der 14. Mai. Da hält die ÖVP ihren Bundesparteitag ab. Nehammer wird offiziell zum Obmann der Volkspartei gekürt – er soll dort auch eine Grundsatzrede halten, in der er seine Vision für Österreich darlegen will.

Sozialthemen sollen dabei eine entscheidende Rolle spielen – und die innere Sicherheit. Oder wie es ein Schwarzer in Richtung Grüne formuliert: "Die Sicherheitspolitik ist jetzt unsere Klimapolitik." Damit meint er: Die Grünen werden in diesem Bereich in den kommenden Monaten wohl auf die Volkspartei zugehen müssen. Die ökosoziale Steuerreform – ein grünes Prestigeprojekt – ist ja bereits umgesetzt.

Vom Popstar zum Stahlarbeiter

Von schwarzen Funktionären hört man neuerdings auch: "Sebastian Kurz war ein Popstar der Politik, Karl Nehammer ist jetzt mehr der Stahlarbeiter." Und das klingt – zumindest aus dem Mund von Konservativen – im ersten Moment fast wie eine Beleidigung. Vielmehr ist es aber ein weiterer Hinweis, wie Nehammer positioniert werden soll: ein ganz normaler Mann, ein Mensch wie du und ich, der seine Kraft dafür einsetzt, an der Zukunft des Landes zu schmieden. Ob das reicht?

Landeschefin Johanna Mikl-Leitner, Präsident Alexander Van der Bellen, Nehammer und Ministerin Elisabeth Köstinger beim Marschieren.
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Nehammer ist vom Typus ziemlich zurückgelehnt für einen Spitzenpolitiker. Er verlässt sich auf sein Team, eine wichtige politische Beraterin ist für Nehammer aber auch seine Frau Katharina Nehammer – die früher selbst in verschiedenen schwarzen Kabinetten gearbeitet hat und kürzlich dafür bekannt wurde, dass sie bei einem Krone-Interview ihres Mannes plötzlich mitplauderte. "Sie ist eine der wichtigsten Ratgeberinnen für mich", erzählt der Kanzler. "Es ist sehr hilfreich, wenn ein Mensch, dem du sozusagen seelisch verbunden bist, viel von dem versteht, was du gerade durchlebst."

STANDARD: Wann ist Ihnen bewusst geworden, welches weltpolitische Ausmaß die Pläne von Wladimir Putin haben?

Nehammer: Ich werde den Tag nie vergessen, diesen 24. Februar. Ich habe noch geschlafen, es war zehn Minuten nach fünf Uhr, da läutet mein Handy, und ich werde informiert, dass die Invasion begonnen hat. In Wahrheit hatten wir uns darauf natürlich schon vorbereitet, es gab viele Briefings. Aber im Endeffekt war es trotzdem eine fast surreale Situation. Es ist für mich persönlich manchmal ja schon surreal genug, überhaupt Bundeskanzler zu sein. Aber in einem solchen erschütternden, historischen Moment erst recht. Ich bin dann nach Brüssel geflogen, wir haben uns beraten, wir haben auch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj telefoniert. Als ich wieder nach Hause gekommen bin, war ich einfach nur froh, dass wir in Österreich im Frieden leben. Dass meine Kinder schlafen und ich keine Angst haben muss, dass gleich irgendwo eine Granate einschlägt. Das ist schon ein außergewöhnliches Privileg, und das ist mir da auf eine sehr nahe und tiefe Art wieder bewusst geworden.

Nehammer kommt aus dem Militär – ihm ist weder die Sprache des Krieges fremd noch das Thema. Er ist gebürtiger Wiener, nach der Schule geht er zum Bundesheer und verpflichtet sich prompt für mehrere Jahre. Schon beim Militär spezialisiert er sich auf strategische und politische Kommunikation, bald darauf dockt er auch bei der Volkspartei an. Vor circa zwölf Jahren beginnt dann die Verniederösterreicherung Nehammers: Denn bis heute wird er trotz Wiener Meldezettels der niederösterreichischen ÖVP zugerechnet.

Es ist Gerhard Karner, heute Innenminister, der ihn damals nach St. Pölten holt. Nehammer wird zum Geschäftsführer der niederösterreichischen Parteiakademie, später dann Generalsekretär des ÖAAB – der schwarzen Arbeitnehmervertretung, in der auch Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner ihre Karriere begründet hatte.

Erster türkis-grüner Clinch

In der Spitzenpolitik ist Nehammer eigentlich erst seit vier Jahren. 2018 wird er von Sebastian Kurz zum Generalsekretär der ÖVP befördert – und dann zum Innenminister gemacht. Durch die öffentlichkeitswirksame Abschiebung mehrerer minderjähriger Mädchen löste er einst den ersten großen Clinch in der türkis-grünen Regierung aus.

Unter seiner Zeit als Innenminister wurde in Wien der Terroranschlag verübt, nach dem zahlreiche Behördenfehler bekannt wurden, die Nehammer politisch zu verantworten hat. Viele Monate lang hieß es, seine Rolle im Innenressort gefalle ihm nicht mehr, er wolle wechseln. Dann wurde er Kanzler.

STANDARD: Sie haben in Bezug auf den russischen Angriff kürzlich den Satz gesagt: Wer das Völkerrecht missachtet, missachtet auch die Neutralität. Was ist Ihre Schlussfolgerung daraus für Österreich?

Nehammer: Das ist ein Befund der Geschichte. Die Neutralität hat nach außen nur eine Wirkung, wenn sie von anderen respektiert wird. Aber die Zeit, in der wir geglaubt haben, dass die atomare Abschreckung dafür sorgt, dass kein konventioneller Krieg mehr stattfindet, ist vorbei. Darauf müssen wir reagieren. Wir werden das Verteidigungsbudget erhöhen und die Energiewende schneller vorantreiben. Gleichzeitig muss die gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik massiv ausgebaut werden. Ich bin überzeugt, dass es angesichts der aktuellen Lage nun auch ein historisches Zeitfenster gibt, in dem das möglich sein wird.

Nehammer hat zwei verschiedene Arten zu sprechen. Wenn er angespannt und streng ist, öffnet er beim Reden kaum seinen Mund. Bei seinen Ansprachen wähnt man sich dann auf einem Militärplatz, auf dem eine Fahne bei starkem Wind immer wieder gegen ihren Masten peitscht. Gerade seit er Kanzler wurde, greift er aber öfter auf eine weichere Weise zu sprechen zurück: getragen, mit mehr Betonung, fast emotional.

Von den Grünen hört man derzeit oft, wie froh sie sind, dass Nehammer nun Österreich in den Verhandlungen rund um den Krieg in der Ukraine vertritt – und nicht Sebastian Kurz, ist der stumme Nachsatz. Es wird eine der großen Fragen von Nehammers Kanzlerschaft, wie er Österreich in Europa positioniert. "Die Zeit ist zu früh, um ein seriöses Urteil über seine europäische Performance abzugeben", sagt Nehammers Parteifreund Othmar Karas, Vizepräsident des EU-Parlaments. "Derzeit ist ja jedes Treffen ein Krisentreffen im Ausnahmezustand."

Nehammer schaut auf das Foto der Unterzeichnung des Staatsvertrags, das er aufhängen ließ. Die aktuelle Situation nehme ihn ziemlich mit, gibt er zu. "Man lebt momentan sozusagen in zwei Welten", sagt er und meint eigentlich sich. "Einerseits in der realpolitischen, innenpolitischen Situation mit ihren Prioritäten und Problemen. Und man lebt in einer sehr bedrückenden, sehr beklemmenden Welt des Krieges." (Katharina Mittelstaedt, 5.3.2022)