Brot ist in vielen Ländern Nordafrikas und im Nahen Osten ein Grundnahrungsmittel. Getreide wird dort zusehends unleistbar.

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Wien – Es ist eine Riesenkatastrophe, für die Ukraine und für Russland. Die Lage verschlechtert sich von Tag zu Tag." Alex Lissitsa bewirtschaftet in der Ukraine mehr als 120.000 Hektar Land. Leichen unzähliger russischer Soldaten liegen auf seinen teils okkupierten Feldern. Kaum einer von ihnen war älter als 25 Jahre, erzählt er. In den abgeriegelten ukrainischen Städten würden Lebensmittel knapp. Aber auch den Russen gingen bei ihrer Invasion Nahrung und Wasser aus. Nun komme klirrende Kälte hinzu.

Lissitsa ist als CEO der IMC Agrarholding einer der größten Landwirte seines Landes. Im Ukrainian Agribusiness Club vertritt er die Interessen nationaler und internationaler Unternehmen der Branche. In einer aktuellen, von der Uni Rostock organisierten Diskussion über die Folgen des Krieges auf die weltweiten Agrarmärkte zeichnet er ein desaströses Bild der Lage in der Ukraine. Um den Schrecken zu beschreiben, sagt er, fehlen ihm die Worte.

80 bis 9o Prozent seiner gut 2000 Mitarbeiter arbeiteten nicht länger in der Lebensmittelproduktion. Sie seien mittlerweile im Militär und in der lokalen Verteidigung im Einsatz, viele suchten Schutz in Rohstofflagern. Er selbst habe von der ukrainischen Regierung den Auftrag erhalten, die Armee zu versorgen.

Keine Aussaat mehr

Doch sein Ackerbau steht still. An die für die neue Ernte dringend notwendige Aussaat in den nächsten Wochen sei nicht zu denken. Noch wird das Saatgut von Securitys bewacht. Lissitsa schätzt, dass gut die Hälfte seiner Milchkühe bereits verendet ist. Die verbliebenen Rinder würden in Ermangelung ausreichenden Futters nur noch notdürftig versorgt. Ihre Milch lasse sich aufgrund geschlossener Produktionen nicht mehr weiterverarbeiten.

Der Unternehmer hält seine Bauern dazu an, Treibstoff zu verbrennen, damit dieser nicht in die Hände der Russen fällt. Sprit fehlt in der Folge auch für die Bewirtschaftung der eigenen Felder. Den aus der Ernte des Vorjahres verbliebenen Mais, der bisher vor allem der Mischfutterindustrie diente, lagert der Ukrainer, der im Norden nahe der Grenze zu Russland aufwuchs, in Silos. Er befürchtet eine Hungersnot. "Ich rechne mit dem Schlimmsten."

Im Vorjahr fuhr die Ukraine eine Getreideernte im Volumen von 85 Millionen Tonnen ein, rechnet Lissitsa vor. 50 Millionen Tonnen davon wurden exportiert. Heuer seien im besten Fall 20 Millionen Tonnen möglich. Das reiche nur mit Mühe für die Eigenversorgung des Landes.

Keine Exporte

Der Weltmarkt werde sich damit abfinden müssen, auf Getreide aus der Ukraine zur Gänze verzichten zu müssen, zieht Lissitsa Bilanz.

Der Überfall Russlands auf die Ukraine stellt neben allem Leid und aller Zerstörung nicht nur Europas Militärpolitik auf den Kopf. Er versetzt auch die Agrarbranche weltweit in Alarmbereitschaft.

Die Ukraine ist weltgrößter Exporteur von Sonnenblumenöl, viertgrößter Exporteur von Mais und siebentgrößter Exporteur von Soja und Weizen. Brechen Ausfuhren der Ukraine ein, führt dies auch zu einer Verknappung von Schweinefleisch, da Futtermittel rar werden.

Was den Weizen anbelangt, sorgte das Land bisher für 15 Prozent der weltweiten Exporte, mit Russland gemeinsam ist es knapp ein Drittel. Massiv darauf angewiesen sind neben dem Nahen Osten vor allem nordafrikanische Länder, die gut die Hälfte ihrer Getreideimporte aus der Schwarzmeerregion beziehen und Brot als Grundnahrungsmittel vielerorts subventionieren. Ägypten etwa ließ erst jüngst Auktionen für Getreide verstreichen, da es sich den Rohstoff nicht mehr leisten kann.

Fatale Folgen

Der Preis für eine Tonne Weizen sprengte dieser Tage zeitweise fast die Grenze von 400 Euro, es war der höchste Stand seit 14 Jahren. Experten warnen, dass es bis ins Jahr 2023 hinein weiter rasant nach oben geht – was fatale Folgen für die Bevölkerung in Importländern hat und mit humanitären Krisen einhergeht.

Für Franz Sinabell, Agrarökonom des Wirtschaftsforschungsinstituts, ist eine Wende der europäischen Agrarpolitik unausweichlich. "Die nötigen Weichen dafür müssen sofort gestellt werden." Denn die Entscheidungen für den Anbau für die kommende Ernte fallen im März. Am 21. dieses Monats wollen sich die EU-Landwirtschaftsminister über Sondermaßnahmen beraten.

Sinabell hält das für zu spät. Denn Russlands Präsident Wladimir Putin steuere auf eine Hungerkrise zu – auch in Afrika. Europa werde die Ukraine mitversorgen und für Teile ihrer bisherigen Getreideexporte in die Bresche springen müssen. "Wir brauchen einen Produktionsschub und werden dafür radikale Maßnahmen ins Auge fassen müssen."

Die Stilllegung von Agrarflächen gehöre gekippt, der neue Einstieg in den Biolandbau vorläufig gestoppt. "Europa kann sich derzeit keine Ertragsreduktion leisten." Es gehöre in der aktuellen Lage zudem ernsthaft darüber nachgedacht, Produktionsmittel der Landwirtschaft zu finanzieren. Es seien teure Instrumente, räumt Sinabell ein. Sie dienten aber auch dazu, Panik auf den Rohstoffmärkten zu vermeiden und Lebensmittelpreise zu stabilisieren.

Wende in der Agrarpolitik?

Von einem Paradigmenwechsel ist in Teilen der EU-Agrarwirtschaft die Rede, angetrieben von Angst vor der davongaloppierenden Inflation. Braucht es infolge des Krieges eine Rückkehr zu intensiver konventioneller Landwirtschaft? Was, wenn jene recht hatten, die wachsende Rohstoffimporte stets kritisierten? Sind die guten Ernten in Gefahr?

Die EU verdankt ihre hohen Erträge nicht zuletzt starkem Energieeinsatz, sprich enormen Mengen an Düngemitteln. Doch der Preis dafür hat sich innerhalb weniger Monate auf 800 Euro die Tonne vervielfacht. Etliche Düngemittelfabriken stehen aufgrund des teuren Gases still.

Sebastian Lakner, Agrarökonom der Uni Rostock, rät dennoch von Schnellschüssen ab. Er bezweifelt, dass das Reaktivieren bracher Agrarflächen alle Probleme löst. Die Abkehr von Klimazielen zugunsten intensiverer Landwirtschaft sei riskant, sagt er im Gespräch mit dem STANDARD. "Wir dürfen trotz allem das Rad nicht zurückdrehen." Er hält es für vernünftig, zuerst bei Tierfutter anzusetzen und auch die Beimischungspflicht für Biosprit auszusetzen. "Wir brauchen temporäre Maßnahmen, und wir müssen dafür Kompromisse finden."

International überschlagen sich Berechnungen über das Ausmaß der Versorgungskrise. Sorge bereiten niedrige Lagerbestände. Dem Branchenverband International Grains Council zufolge fallen die Reserven der großen Exporteure in der aktuellen Erntesaison auf ein Neun-Jahres-Tief von 57 Millionen Tonnen. Dies reiche gerade einmal aus, um den weltweiten Bedarf für 27 Tage zu decken. Ohne russische und ukrainische Bestände sinke diese Frist auf weniger als drei Wochen. (Verena Kainrath, 6.3.2022)