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Weitere Eskalation: Ein Brand im AKW Saporischschja im Südosten der Ukraine nach Raketenbeschuss.

Foto: Reuters / Zaporizhzhya NPP via Youtube

Für weltweite Aufregung sorgte eine Meldung, die in der Nacht auf Freitag eintraf: Das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja im Süden des Landes geriet unter russischen Beschuss, es kam zu einem Feuer auf dem Gelände. Wenig später folgte Entwarnung: Die Strahlungssicherheit des AKW sei gewährleistet, auch wenn dieses mittlerweile unter russischer Kontrolle steht. Der Brand betraf lediglich ein Schulungsgebäude, das Fachpersonal überwache den Zustand der Kraftwerksblöcke, erklärten die regionalen Behörden.

Doch die Angst vor einem nuklearen Zwischenfall ist damit nicht passé. Der Bürgermeister der nahegelegenen Ortschaft Enerhodar, Dmytro Orlow, bezeichnete die Lage als nach wie vor "extrem angespannt". Er empfahl allen, zu Hause zu bleiben. Erinnerungen an vergangene Woche wurden wach, als russische Truppen das mittlerweile stillgelegte AKW Tschernobyl einnahmen.

IAEA-Chef will vor Ort inspizieren

Die in Wien ansässige Internationale Atomenergie-Agentur (IAEA) erklärte, es sei rund um Saporischschja keine erhöhte Radioaktivität gemessen worden. IAEA-Chef Rafael Grossi forderte ein sofortiges Ende der Kämpfe rund um das AKW und warnte vor "ernster Gefahr", sollte einer der Reaktoren getroffen werden. Er kündigte an, selbst nach Saporischschja reisen zu wollen, um die Lage zu inspizieren. Zudem schlug er Tschernobyl als Ort für Verhandlungen über Sicherheitsgarantien für AKW zwischen Russland und der Ukraine vor.

DER STANDARD

Erst einen Tag zuvor hatte das Lenkungsgremium der IAEA, der Gouverneursrat, die militärische Einnahme von ukrainischen Atomkraftwerken verurteilt. In der Resolution hieß es, das Risiko für einen Atomunfall mit internationalen Auswirkungen habe sich durch die russische Invasion deutlich erhöht.

Auch der österreichische Nuklearexperte Georg Steinhauser spricht von einer "brandgefährlichen" Situation. "Neben einem AKW setzt man keine 19-jährigen Rambos an den Granatenwerfer, weil man vielleicht dann auch Dinge trifft, die man nicht treffen wollte", sagte der Radioökologe von der Universität Hannover. Doch er gehe nicht davon aus, dass dahinter Absicht stecke. Schließlich verfüge Russland über eine "enorme nukleare Expertise". Er selbst denke daher auch nicht, dass Moskau einen nuklearen Zwischenfall verursachen möchte. "Die haben andere Möglichkeiten, die Ukraine radioaktiv zu kontaminieren, wenn sie das wollen."

Neuntgrößtes AKW der Welt

Die Strahlungssicherheit sei laut Steinhauser grundsätzlich dann in Gefahr, wenn ein Reaktordruckbehälter, das Zwischenlager oder Abklingbecken Schaden nehmen würden. Auch wenn ein Stromausfall zu einem Ausfall der Kühlung führe, sei das gefährlich. Ein "Desaster" sei es für ihn zudem, dass sich AKWs wie Tschernobyl oder nun auch Saporischschja nicht mehr in staatlicher Kontrolle befinden. Wobei ihm letzteres mehr Sorge bereite, "weil dort frischeres radioaktives Material gelagert ist".

Das AKW Saporischschja ist das leistungsstärkste Kernkraftwerk Europas und das neuntgrößte der Welt. Vor dem Krieg produzierte es rund ein Fünftel des ukrainischen Stroms, die elektrische Gesamtleistung liegt bei rund 6.000 Megawatt. Das Kraftwerk besteht aus sechs Druckwasserreaktoren mit massiven Sicherheitsbehältern und ist damit ein sichererer Bautyp als jener, der 1986 zur Nuklearkatastrophe von Tschernobyl geführt hat.

Im AKW Saporischschja gibt es zwei getrennte Wasserkreisläufe, wodurch die Kühlung durch ein eigenes, getrenntes System erfolgt. Das Kühlwasser für das AKW stammt aus dem Fluss Dnepr, an dessen Ufer, im Südosten der Ukraine, die Anlage liegt.

Für Österreich sieht Steinhauser aktuell keine Gefahr. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass man in Österreich Jodtabletten nehmen muss, wenn in der Ukraine etwas in die Luft fliegt", sagt der Nuklearexperte mit Verweis auf die große Distanz. "Selbst in Fukushima ist es nur in Ausnahmefällen zur Einnahme von Jodtabletten gekommen." Am "allerschlimmsten" fände er, würde man jetzt schon Jodtabletten schlucken. "Sie haben beträchtliche Nebenwirkungen." Viele in Österreich hätten ihn gefragt, ob man sich nun Sorgen machen müsse. "Meine Antwort: Nein, müsst ihr nicht."

Keine Bedrohung in Österreich

Ähnlich lautet die Einschätzung der österreichischen Politik. "Es besteht derzeit keine Gefährdung für Österreich und für die Menschen, die in Österreich leben", erklärte am Freitag Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) nach einem Lagebriefing durch die Strahlenschutzabteilung des Klimaschutzministeriums. Das Gesundheitsministerium hat zudem Anfang der Woche bereits darauf hingewiesen, dass die aktuelle Situation in der Ukraine keinen Kauf von Kaliumiodidtabletten nötig macht.

Auch wenn aktuell keine Bedrohung besteht, haben Schulen seit Jahren gewisse Vorkehrungen getroffen. So müssen Eltern an allen Schulen in Österreich zu Beginn des Unterrichtsjahres eine Einverständniserklärung abgeben, dass – im Fall des Notfalls – ihren Kindern Jodtabletten verabreicht werden dürfen, die in den Bildungseinrichtungen vorliegen. Kinder und Jugendliche reagieren auf Strahlung empfindlicher als Erwachsene. Dieses Vorgehen ist Standard, betont man dazu im Bildungsministerium. Und: "Wichtig ist, dass man die Tabletten nicht einfach so einnimmt."

Der beste Schutz gegen Strahlung ist der Aufenthalt in geschlossenen Räumen, auch über mehrere Tage. Der Zivilschutzverband empfiehlt daher – auch ohne akute Bedrohungssituation –, Lebensmittel für 14 Tage zu Hause vorrätig zu haben. (Kim Son Hoang, Tanja Traxler, Oona Kroisleitner, 4.3.2022)