Ein Wechsel in die Politik kommt für Lena Schilling "unter den jetzigen Umständen" nicht infrage – auch wenn es bereits Angebote gegeben hat. "Junge Menschen zerbrechen daran, wenn sie am Koalitionstisch mit der ÖVP sitzen und darüber verhandeln, ob sie lieber Kinder abschieben oder Wälder abholzen lassen." Aktuell fühle sie sich von keiner Partei im Parlament vertreten. Die 21-Jährige will ihren Prinzipien treu bleiben. Das habe sie bereits mit ihrer Abkehr von Fridays for Future bewiesen.

Auch nach der Räumung des Protestcamps will Lena Schilling gegen die Stadtstraße mobil machen.
Foto: Regine hendrich

Schilling kämpft derzeit an vorderster Front gegen die Lobauautobahn und die Stadtstraße. Als Sprecherin und Gesicht der Lobau-bleibt-Bewegung fordert die Wienerin den Bürgermeister heraus. Lobauautobahn und Tunnel hat Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) bereits abgesagt. Die daran anknüpfende Stadtstraße will Wiens SPÖ-Chef Michael Ludwig aber bauen.

"Zweites Hainburg"

Der Protest beginnt im Mai 2021. In einer Aussendung sagt Schilling: Wenn Ludwig sein "zweites Hainburg erleben will, dann kann er das haben". Es ist die Initialzündung der Bewegung. Schilling trommelt Organisationen zusammen. Es folgen "paar Treffen bei mir im Wohnzimmer, und es hat sich entwickelt", erzählt sie. Ende August meldet Schilling ein Camp in einer Hirschstettner Parkanlage an, wenige Tage später schlagen die Aktivisten ihre Zelte auf den Baustellen der Stadtstraße auf.

Monate vergehen, in denen die Bagger stillstehen. Der Gegenwind wird kräftiger. Im Dezember verschickt die Stadt Millionenklagsdrohungen an über 40 Protestierende, darunter auch minderjährige Schülerinnen. Kurz vor Silvester erfolgt ein mutmaßlicher Brandanschlag, bei dem sich Jugendliche aus einer brennenden Hütte retten müssen. Im Februar lässt die Stadt schließlich die größere der beiden Besetzungen räumen. In dem stundenlangen Großeinsatz setzen Polizisten Pfefferspray ein und nehmen 48 Aktivisten fest. "Das waren Bilder, die die SPÖ noch lange begleiten werden", prophezeit Schilling.

Der Konflikt polarisiert; Schilling ebenso. Für ihre Mitstreitenden ist sie die Frau, die Ludwig ein zweites Hainburg beschert hat. Ihre Gegner sehen sie als Blockiererin von Verkehrsprojekten, die sich instrumentalisieren lässt. Fest steht jedenfalls: Schilling hat die Debatte über den Lobautunnel geprägt wie kaum eine andere. Als Fridays-for-Future-Aktivistin wurde sie zu einem der bekanntesten Gesichter der österreichischen Klimabewegung. Heute ist die Politikstudentin Sprecherin der Lieferkettengesetz-Initiative und des Jugendrats. Doch wie kam es dazu?

Schwarz-blaue Kindheit

Schilling wird 2001 geboren – ein Jahr nachdem die ÖVP zum ersten Mal die FPÖ in die Regierung geholt hat. Mit vier Jahren nehmen sie ihre Eltern auf Demos gegen Schwarz-Blau mit. Früh zeigt sich ihr Gerechtigkeitsdrang. Mit fünf Jahren will sie Kanzlerin werden; mit zwölf hört sie auf, Fleisch zu essen. Grundlegend politisiert hat die Meidlingerin vor allem die Mithilfe in dem Flüchtlingsheim, das ihre Mutter leitet. Während der großen Fluchtbewegung 2015 betreut sie dort Kinder, gibt Essen aus und unterrichtet Deutsch. Wenig später wird der Ton in der Asyldebatte rauer, Österreich steht vor der nächsten Nationalratswahl. Um gegen eine FPÖ-Regierungsbeteiligung zu protestieren, geht die 16-Jährige auf eine Demo der Linkswende, einer marxistischen Gruppe. Schilling nimmt wenig später auch an Treffen teil. "Dort waren hauptsächlich Männer Mitte 30, die sich über das Kapital und Marx unterhalten haben", sagt sie. "Ich wollte das mindestens besser verstehen." Sie liest Platon, Luhmann, Lenin, Trotzki. Am liebsten schmökert sie aber in Dostojewski-Romanen.

Bei der Räumung des Camps gab Lena Schilling dutzende Interviews.
Foto: Regine hendrich

Was Schilling damals liest, prägt später auch ihren Standpunkt in der Klimafrage – vor allem ihre Überzeugung, dass es in einem kapitalistischen System nicht möglich sei, die Klimakrise nachhaltig zu lösen. Der Zeitgeist rund um Fridays for Future und Greta Thunberg trifft damals einen Nerv bei ihr. Als die Bewegung Ende 2018 auch hierzulande ankommt, lernt sie Katharina Rogenhofer und Johannes Stangl, die Gründer von Fridays for Future Österreich, kennen. Schillings rhetorisches Talent und die bisherige Aktivismuserfahrung überzeugen. Damit sei sie ein "perfect fit" gewesen, um die junge Bewegung nach außen zu vertreten, sagt Stangl. Der grüne Klimasprecher Lukas Hammer nennt Schilling und Rogenhofer "die jungen Frauen, die die Klimabewegung immer gebraucht hat".

Profi bei Interivews

Heute ist Schilling auch ein Medienprofi – allein am Tag der Räumung hat sie über 60 Interviews gegeben. Seit sie mit 17 Jahren ausgezogen ist, jobbt sie als Tanztrainerin und kann sich den Aktivismus als Vollzeitjob leisten. In der Familie hat Schilling das Debattieren geübt. Ihr Großvater war FPÖ-Bezirksrat, ihr Vater arbeitet bei einer Bank. Die Streitthemen: Zuwanderung und Wirtschaft. "Oft bereiten mein Vater und ich Statistiken vor und streiten uns zwei Stunden lang", sagt sie.

Landesweit hat Fridays for Future hunderttausende Menschen auf die Straße gebracht. Viele von ihnen hat Schilling in den Klassenzimmern selbst mobilisiert. Ein Ventil für andere soziale Ungerechtigkeiten hat ihr aber gefehlt. "Ich bin nicht mehr bei Fridays, weil ich dort manche Dinge einfach so nicht sagen kann", sagt sie heute. Ihre Kapitalismuskritik und ihre Forderungen nach sozialer Umverteilung hätten kein Gehör gefunden. Die Bewegung habe sich damals nicht nach links lehnen wollen – eine taktische Entscheidung.

Dreh und Angelpunkt

Anfang 2020 ruft Schilling daher gemeinsam mit anderen Aktivistinnen den Jugendrat ins Leben – eine linke parteiunabhängige Jugendorganisation, die sich neben Klimagerechtigkeit auch für Feminismus und Bildungsgerechtigkeit einsetzt. Die Aktivisten setzen auf zivilen Ungehorsam und Aktionen wie Banner-Drops oder Sitzblockaden.

Lena Schilling im Protestcamp.
Foto: Heribert Corn

Im Camp gilt Schilling als Dreh- und Angelpunkt im Austausch mit Polizei, Journalisten und Politikern. Mit ihrem Netzwerk hat sie immer den passenden Kontakt parat. Der Protest lebt aber von der Masse, betont sie. Neben dem Jugendrat zählen dazu Fridays for Future, System Change not Climate Change, Extinction Rebellion und lokale Bürgerinitiativen. Die Besetzung dauert mittlerweile länger als jene der Hainburger Au 1984. Mit der Absage der Lobauautobahn ist sie für Schilling bereits ein Sieg. "Man sieht, welchen Gegenwind Gewessler jetzt schon bekommt. Wenn wir nicht gewesen wären, hätten sie alle für absolut verrückt gehalten." Der Protest würde die Grünen "vor sich hertreiben".

Grüner Erfolg

Die Grünen hingegen feiern den Baustopp als ihren Erfolg. Auch frühere Proteste hätten den Weg für das Tunnel-Aus bereitet. "2006 sind wir das erste Mal ins Feld gezogen, da war die Lena gerade einmal fünf Jahre alt", sagt der Nationalratsabgeordnete Hammer. Nach jahrzehntelangem Widerstand bezeichnet er den heutigen Protest lediglich als "Puzzlestein, der zum notwendigen Rückenwind geführt hat".

Neben ihrem Studium will Schilling den Jugendrat weiter aufbauen. In spätestens drei Jahren soll der nächste Schritt folgen. Wohin, wisse sie selbst noch nicht. Dabei ist sie eine Strategin, die klare Ziele verfolgt. An den Wänden ihrer Wohnung reihen sich Flipcharts und Tafeln aneinander. Darauf aufgezeichnet: Kurz- und Langzeitstrategien, Mindmaps ihrer Netzwerke und To-do-Listen. Sie möchte ihr Leben lang politische Arbeit machen, versichert sie. Um auch Realpolitik machen zu können, brauche es eine Masse an Menschen, die das System aufrüttelt. Mit dem Jugendrat baut sie eine politische Kaderschmiede dafür auf. Dort vermittelt sie ihren Schützlingen, "die Zukunft selbst in die Hand zu nehmen". Vorerst wird Schilling jedenfalls weiter protestieren. So lange, bis auch die andere Besetzung geräumt wird. Oder die Stadt das Projekt Stadtstraße überdenkt. (PORTRÄT: Alexios Partoglou, 6.3.2022)