Der alte Mann mit weißem Rauschebart und Nickelbrille liegt im Schaufenster und schläft. Sein pfeifendes Schnärcheln tönt kaum hörbar über einen Lautsprecher nach draußen auf die Singerstraße. Die Größe seines Bettchens entspricht einer Schuhschachtel, die Tuchent ist grün-rot kariert. In der linken Hand hält der kleine Weihnachtsmann ein Schnapsglas. Seine Stiefel hat er brav ans Ende des Bettes gestellt. Er büselt hier Jahr für Jahr.

Die Auslagen der Weinhandlung Grams sind nicht nur zur Weihnachtszeit eine kleine Kuriosität. Vorbeiflanierende drücken ihre Nase das gesamte Jahr über an die fünf Fenster mit ihren grünen alten Rollläden und Markisen. Sie gleichen einem Wimmelbild.

Maßgeschneiderte Etiketten, welche die Weinhandlung Grams prompt für Kundschaft fertigt.
Foto: Heribert Corn

Wie wäre es mit einer Magnumflasche Sekt, in der 23-karätige Goldflankerln rieseln, dem Modell einer Weinpresse, rankendem Plastikefeu oder jeder Menge Etiketten mit eher kitschigen Aufschriften zu Anlässen wie Geburtstag, Pensionsantritt, Hochzeitstag etc.? Kleine Kostprobe gefällig? "Dem Ingeniööör ist nichts zu schwöööör, nicht einmal der 80ööör"? Grams wirbt damit, in einer Stunde Etiketten aller Art samt Fotos und anderen Bildchen für die Kundschaft zu fertigen und auf ausgesuchte, meist sehr alte Bouteillen zu picken. Über 1.000 Ideen habe man dafür auf Lager.

An der Eingangstür zum Geschäft ist zu lesen: "Lächle" und "Achtung Stufe". Nach dem Niederdrücken der Türklinke bimmelt ein kleines Sträußchen aus Glocken, einige Augenblicke später taucht Victor Grams wie aus dem Nirgendwo auf. Er führt mit seinem Bruder Mathias das Geschäft. Vater Gerhard, der die Weinhandlung und den Keller vor über 40 Jahren übernahm, mischt auch noch mit.

Bergrettung und Wein

Im Geschäft sieht es nicht nur nach altem Holz aus, es riecht auch danach. Die Fläche des Verkaufsraums mit seiner Budel und dem groben Putz kommt an eine größere Tabaktrafik heran. Zu sehen sind Karaffen, Bücher, Flaschen verschiedenster Größen, Werkzeug zu deren Öffnung, an den Wänden hängen zwei geschnitzte Fassböden samt Heiligenfiguren aus dem Jahr 1890. Auf dem Verkaufstisch über dem Fliesenboden wartet der Schlitz einer Dose der Wiener Bergrettung auf Spenden.

Das erwähnte Nirgendwo, aus dem Victor Grams auftauchte, liegt neben dem Verkaufsraum. Dort befindet sich ein Büro mit drei Sesseln, Computern, einigem Kramuri und ein paar Bildern von Boxern. Gemeint ist die Hunderasse. Familie Grams führt mittlerweile schon Nummer fünf Gassi. Durch einen zugezogenen grünen Vorhang fällt Licht in den Raum. Wenig Licht. "Mit der Zeit kommt schon was zusammen", kommentiert Victor Grams das Setting.

Familie Grams im Verkaufsraum ihrer Weinhandlung(v. li.): die Söhne Mathias und Victor Grams samt Boxer Indy, Mutter Christiane und Vater Gerhard.
Foto: Heribert Corn

"Vieles vom Geschäft hat sich ins Internet verlegt, und der Online-Handel läuft gut", sagt Mathias Grams im Büro. Die Menschen würden zu runden Geburtstagen nach wie vor gern Wein verschenken, und bei immer mehr Leuten habe sich, so die Brüder Grams, herumgesprochen, dass auch bestimmte Weißweine bei richtiger Lagerung und fitten Korken über Jahrzehnte Trinkgenuss bereiten.

Die älteste Flasche, die Grams je verkaufte, war ein Madeira aus dem Jahre 1795. Sechs Jahre früher startete die Französische Revolution, schießt es dem Besucher ein. Mittlerweile führt ein Likörwein von 1827 die Rangliste der Methusalem-Tropfen an. Für 7.800 Euro ist er zu haben. Doch wer feiert schon seinen 195. Geburtstag? Vizeadmiral Wilhelm von Tegetthoff würde es tun, hätte er nicht das Zeitliche gesegnet. Heidi-Erfinderin Johanna Spyri ebenso.

Eckige Ringe

"Wir verfügen über das wahrscheinlich größte Altweinlager österreichischer Raritäten", erwähnt Victor Grams nicht ohne Stolz. Und die schrägsten Etiketten, denkt sich der Besucher. Der Weinauskenner zeigt eine Flasche Muskat Ottonel Jahrgang 1972, verpackt in ein schönes Kistchen samt Zertifikat, Weingutbeschreibung und Jahreschronik um 122 Euro. Besonders in diesem Segment haben die Grams also ihre Nische gefunden, nachdem der Druck durch den Weinhandel von Supermärkten und anderen Konkurrenten wie Wein & Co bereits seit langem immer heftiger wurde und es auch dem Doppler mehr und mehr an den Kragen ging.

Der Einladung, in den Keller zu folgen, kommt man gern und mit neugieriger Nase nach. Vorbei am Etiketten- und Kuvertierkämmerchen geht es abwärts, und flugs landet man im Schlepptau der Grams-Brüder in einem Reich von noch viel mehr Flaschen, Kisten, Staub und einem ganz eigenen Geruch. Die tausenden Ziegel der Gewölbe wirken wie Jahresringe. Diese Ringe sind eckig.

Der Begriff Zeitreise wirkt hier unten abgelutscht. Der Ausflug in diese Unterwelt gleicht eher einem Verschlucktwerden von einem steinernen Schlund, einem Traumszenario, das man sich merken wird.

Einer der alten Kellergänge
Foto: Heribert Corn

Die Brüder Grams wissen nicht, wie viele Quadratmeter die insgesamt sieben Keller messen, die auf verschiedenen Ebenen wie gewölbte Schachteln ineinanderfließen. "Die Keller sind 700 Jahre alt. Es gibt keine Baupläne", sagt Victor Grams. 700 Jahre, ein schönes Weilchen, geht es einem durch den Kopf. Damals haben sich die Ritter noch die Schädel eingeschlagen. Dante Alighieri hat seine Göttliche Komödie geschrieben. Die Pest forderte Millionen von Toten.

Wie tief man sich unter der Erde befindet? Mathias Grams zuckt mit den Schultern und meint:_"Acht, vielleicht neun Meter." Die verschlungenen und verwinkelten Keller wirken wie Grabkammern für unzählige Flaschen. Dabei sind sie gar nicht unzählig. 20.000 Flaschen lagern hier und warten darauf, irgendwann geleert zu werden. Doch das hat Zeit. Diese Flaschen sind in Geduld geübt.

Hans Moser und Paul Hörbiger

"Die Inventur ist eine Mörderarbeit", meint Victor Grams und nimmt fürsorglich, als handle es sich um ein Baby, eine Flasche Château Clarke Rothschild Jahrgang 1992 aus einem vergitterten Regal. Sie ist in Seidenpapier gewickelt, was das Etikett vor Feuchtigkeit und Schimmel schützt. Sollte sich bei Weinen älteren Jahrgangs durch Kellerfeuchtigkeit das Etikett unleserlich zeigen, kennzeichnen plombierte Kontrollkärtchen Jahrgang und Kontrollnummer des Rebensafts.

Neben der Stellage mit den Rothschild-Tropfen leuchtet rötlich-goldenes Licht durch die Fenster eines holzvertäfelten unterirdischen Kämmerchens, von dem man nicht weiß, wofür es da ist. An seiner Wand hängen gläserne Lampenschirme, die an alte Suppenschüsseln erinnern, und man würde sich kaum wundern, wenn Hans Moser und Paul Hörbiger hier aus Römern ihren Gumpoldskirchner pippelten. Auch Vampire und andere lichtscheue Gestalten dürften dieses Kabuff als ziemlich hygge empfinden.

Die älteste Flasche, die Grams je verkaufte, war ein Madeira aus dem Jahre 1795.
Foto: Heribert Corn

Immer wieder zeigen sich in dieser Unterwelt kleine Wolken aus Holzwolle, das als Packmaterial dient, zahlreiche Ordner, metallene Regale, die wie Käfige wirken, und ein Packtisch, über dem eine Neonröhre leuchtet. Aus einem Radio ertönt die Stimme eines Nachrichtensprechers, wohl die einzige aktuelle Verbindung zur Welt da draußen, pardon, dort oben. Apropos oben: Über dieser Ecke des Kellers liegt die Klosterküche des Franziskanerklosters

Der rote Abt

Im sogenannten 7er-Keller hat die Feuchtigkeit einer Glühbirne, die armselig vom Gewölbe baumelt, den Garaus gemacht. Die Gebrüder Grams sind mit Taschenlampen ausgestattet, wie sie US-Cops verwenden. Die beiden gemahnen zur Obacht. Im Lichtkegel der Lampen versucht der Besucher seine Notizen aufs Papier zu bringen. Aus seinen ohnehin mit Bedacht gesetzten Schritten wird in diesem Teil des Kellers ein unsicheres Trippel-Trappel über kleine Mugel, die sich aus dem Lehmboden wölben.

Hoch darüber eine gemauerte Kuppel, so groß wie der Bauch des Leviathan. Hinter ihm liegen die geheimnisvollen Katakomben der Franziskanermönche, den Hausherren dieses Areals. Ein Gitter lässt von hoch oben die vergilbten Strahlen von ein wenig Sonnenlicht herunterleuchten. Eher eine Ahnung davon. Im Dunkel versteckt stehen ein paar alte Pumpenmaschinen, mit denen hier vor vielen Jahren abgefüllt wurde. Auch ein paar riesige Holzfässer, die irgendwie traurig wirken, wie sie so leer und trocken im Dunkel ihr Dasein fristen. Überall liegen Staub und Brösel vom Putz des Ziegelmeers. "Das aufzukehren wäre eine Lebensaufgabe", sagt Victor Grams.

Die Sache mit dem Gespenst

Mit G’schichtln geizen die beiden ein wenig. Da gebe es, im Gegensatz zu den Flaschen, nicht viel zu erzählen. Ein bisschen etwas geht dann doch. Peter Alexander war einst Kunde, und der Komponist Gottfried von Einem bezeichnete das Geschäft als "seine Weinhandlung". "Lebende Legenden", wie Victor Grams sie nennt, wolle er aus Diskretion keine erwähnen. Wäre da noch die Sache mit dem Gespenst. Die Vorgängerin der Grams habe einen rotgewandeten Abt durch die Gänge spuken sehen. Heute lässt er sich nicht blicken. Vielleicht gibt’s oben im Kloster gerade Mittagessen.

Es würde einen auch nicht wundern, wenn sich der Dritte Mann im Keller seine Bouteillen besorgte. Das macht man, ehe einen dieses Reich wieder ins Jahr 2022 ausspuckt, dann auf jeden Fall selber. Auch wenn es bis zum nächsten Runden noch ein Weilchen hin ist. (Michael Hausenblas, 7.3.2022)