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Medien stehen vor der Aufgabe, Leid und Leiden im Krieg zu dokumentieren, ohne die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu verletzen. Hier ist ein zurückgelassener Rollstuhl an der ukrainisch-rumänischen Grenze zu sehen.

Foto: Reuters/CLODAGH KILCOYNE

Ein Teenager, ein Mädchen im Volksschulalter und seine Mutter liegen auf einer Brücke. Alle drei sind tot. Zum Zeitpunkt der Aufnahme lebt ihr Helfer* als einziger noch. Er liegt daneben. Das US-Qualitätsmedium "New York Times" veröffentlichte am Sonntag online und am Montag auf dem Printcover ein verstörendes Foto vom Ukraine-Krieg und löst damit eine Debatte über Medienethik aus. Welche Bilder sollen und dürfen Medien zeigen?

Die Aufnahme stammt von der Fotoreporterin Lynsey Addario und soll ein Kriegsverbrechen dokumentieren. Russische Truppen haben nach Angaben von Journalisten beim Vormarsch auf die ukrainische Hauptstadt Kiew eine Brücke mit Mörsern beschossen und mindestens drei Angehörige einer Familie getötet. Das Foto hat vor allem einen Zweck: aufzurütteln.

Medienethiker gegen Veröffentlichung

Christian Schicha, deutscher Medienwissenschafter und Professor für Medienethik in Erlangen, kann die Ambition der "New York Times" verstehen, die Veröffentlichung hält er aber für höchst problematisch: "Ich bin dafür, Bilder zu zeigen, die das Grauen dokumentieren, das ist die Aufgabe von Journalismus. Ich bin aber nicht dafür, dass Menschen identifizierbar sind."

Bei dem Foto sind die Gesichter der Leichen gut zu sehen. Es sei eine "absolute Horrorvorstellung", dass etwa Familienmitglieder oder Freunde erst durch dieses Foto vom Tod ihrer Angehörigen erfahren. Es gebe zahlreiche Möglichkeiten, das zu verhindern. Indem etwa die Gesichter verpixelt werden. Medien müssten zwischen Aufklärung und Voyeurismus unterscheiden: "Leid und Grauen muss man zeigen, die Grenzen sollten aber bedacht werden." Medien sollten von Fotos mit blutüberströmten Gesichtern Abstand nehmen.

Es spiele auch eine Rolle, wo das Foto gezeigt werde, sagt Schicha zum STANDARD. Auf dem Cover sei es für alle sichtbar, die sich im öffentlichen Raum bewegen, also auch für Kinder und Jugendliche: "Sie können durch so eine Aufnahme verstört oder traumatisiert werden."

Fotos als Mahnung und Andenken

Schicha verweist auf Fotos, die im Herbst 2015 im Zuge der Flüchtlingskrise veröffentlicht wurden und den dreijährigen Alan Kurdi zeigen. Die Leiche des syrischen Jungen kurdischer Abstammung wurde an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmt. Die Aufnahmen gingen um die Welt. "Es gibt ganz viele Bilder, die seinen Körper zeigen. Entweder wurde das Gesicht verpixelt oder die Rückseite des Körpers gezeigt. Trotzdem war allen klar, dass es hier ein Opfer gibt, dafür braucht es nicht das Gesicht." Außerdem habe sein Vater an Medien appelliert, die Fotos zu veröffentlichen: "Das ist eine andere Dimension, wenn man sagt, wir wollen dieses Bild als Mahnung."

Schicha erwähnt auch das Benetton-Sujet aus dem Bosnienkrieg, auf dem ein blutverschmiertes Hemd mit Einschussloch zu sehen war. "Man kann das Grauen des Krieges ohne Bilder zeigen, die Opfer identifizierbar machen."

Ramsauer für Ausnahme

Petra Ramsauer, langjährige Kriegs- und Krisenreporterin, sieht in dem Foto der "New York Times" ein "zeithistorisches Dokument der Kriegsverbrechen Russlands" und ein "Paradebeispiel für den Bruch jeglichen Völkerrechts". Aus diesem Grund ist sie auch dafür, es zu zeigen. Normalerweise gelte die Richtlinie, dass Medien keine Fotos von Toten bringen, daran sollte man sich halten, aber: "Ich bin der Meinung, dass das Ausmaß der Kriegsverbrechen alle anderen Regeln außer Kraft setzt und das Foto gezeigt werden soll." Es sei ein kaltblütiger Angriff auf fliehende Zivilisten gewesen, und die "New York Times" veröffentliche solche Aufnahmen nicht einfach so, sondern nur nach sorgfältiger Prüfung.

Auch wenn man sich die Frage stellen müsse, welche Auswirkungen das auf Kinder oder Menschen habe, die solche Bilder nicht aushalten. Das öffentliche Interesse überwiege für sie in diesem Fall, sagt Ramsauer zum STANDARD: "Ich verstehe aber auch total, wenn das andere anders sehen und das Foto nicht bringen." Über das Wo ließe sich debattieren, es sei aber scheinheilig, zwischen Cover und Innenseiten zu differenzieren. Durch die digitale Verbreitung und Vorschaubilder sei das obsolet. Sie ist auch gegen eine Verpixelung: "Man soll die Brutalität des Krieges zeigen." Grundsätzlich müsse man bei solchen Fotos aber von Fall zu Fall entscheiden.

Warzilek für Warnung und Erklärung

Für Alexander Warzilek, Geschäftsführer des Presserats, ist es grundsätzlich legitim, so ein Foto zu veröffentlichen, auch wenn er generell für Zurückhaltung plädiert. "Man kann das im Einzelfall machen, sollte aber nicht streckenweise Grauenszenarien bringen, es jeden Tag tun oder 15 Bilder davon in einer Slideshow zeigen." Er hält es für entscheidend, die Aufnahme in einen redaktionellen Kontext zu setzen. Medien müssten ihren Leserinnen und Lesern erklären, warum sie das machen. "Sie könnten etwa auch eine Warnung aussprechen, dass etwas Brutales zu sehen sein wird", so Warzilek, der aus diesem Grund dagegen ist, das Foto auf die Titelseite zu stellen. So könnten es auch Kinder zu Gesicht bekommen.

Ein Kriterium sei auch die Identifizierbarkeit: "Sieht man die Gesichter der Leichen so genau, ist es besser, sie zu verpixeln." Das Grauen sei trotzdem gut erkennbar. Und Persönlichkeitsschutz gilt auch für Tote. Warzilek verweist im Gespräch mit dem STANDARD auf eine Entscheidung des Presserats in der Schweiz. Für das Selbstkontrollorgan war es medienethisch in Ordnung, dass eine Zeitung ein Foto brachte, das einen Vater mit seinen zwei toten Kindern zeigte, die bei einem Giftgasangriff ums Leben kamen. "Das ist auch ein wichtiger Faktor. Wenn man weiß, dass die Angehörigen die Bilder freigeben oder sie einverstanden mit der Veröffentlichung sind." Je deutlicher die Opfer erkennbar seien, desto wichtiger sei es zu wissen, wie das Umfeld dazu stehe. (Oliver Mark, 8.3.2022)