Die Lyrikerin Esther Dischereit erinnert im Gastkommentar an ein Gedicht des russischen Dichters Jewgeni Jewtuschenko.

"Hau den Juden, rette Russland!" Ein paar Zeilen weiter heißt es: "Mein russisches Volk! / Internationalistisch / bist du, zuinnerst, ich weiß, / Dein Name ist fleckenlos, aber / oft in Hände geraten, die waren nicht rein". Wieder ein paar Zeilen weiter: "Und sie, die Antisemiten, die nieder- / trächtigen, dass / sie großtun mit diesem Namen: / "Bund russischen Volks"! ... / Die Blätter – verboten. / Der Himmel – verboten ... / Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern. / Aber verhasst bin ich allen Antisemiten. / Mit wütigem, schwieligem Hass, / so hassen sie mich – / wie einen Juden. Und deshalb bin ich / ein wirklicher Russe." Es sind Ausschnitte aus diesem weltberühmt gewordenen Gedicht "Babij Jar", das Jewgeni Jewtuschenko 1961 schrieb.

Ort des Gedenkens

Am 2. März griff das russische Militär den Fernsehturm in Kiew nahe der Holocaustgedenkstätte Babyn Jar an. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskji erklärte: "Für jeden normalen Menschen, der unsere Geschichte kennt, die Weltgeschichte, ist Babyn Jar ein besonderer Teil von Kiew." Dieser Angriff zeuge davon, dass für die absolute Mehrheit der Russen Kiew fremd sei. Er sagte weiter, dass Babyn Jar ein Ort der Erinnerung sei, an die Menschen, die von den Nazis hier getötet wurden. "Sie töten die Opfer des Holocaust ein zweites Mal." Selenskji erinnerte an die besondere Bedeutung, die die Erinnerung an Babyn Jar in der Kultur seines Landes habe.

Nach dem Überfall von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion im Jahr 1941 besetzten die Deutschen am 23. September 1941 Kiew, und ihre Einsatzgruppen ermordeten unter Mithilfe von Ukrainerinnen und Ukrainern 33.000 ukrainische Juden.

Die Gedenkstätte Babyn Jar in Kiew.
Foto: AFP / Dimitar Dilkoff

1976 wurde hier eine Denkmalsanlage errichtet. Der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko war es, der zuerst mit dem gleichnamigen Gedicht diesen Ort des Gedenkens schuf, und zwar 1961; der Komponist Dmitri Schostakowitsch widmete mit der 13. Sinfonie in b-Moll sein Werk dem Andenken der Ermordeten, und beide setzten sich damit wegen ihrer Haltung gegen russischen Antisemitismus scharfer Kritik aus. Schostakowitschs Werk wurde nach einigen Aufführungen abgesetzt.

Reine Propaganda

"Sie wissen nichts über unsere Hauptstadt. Über unsere Geschichte", kommentierte der ukrainische Präsident den Angriff in der Nähe ebendieses historischen Platzes. Man könnte hinzufügen: und über die eigene Geschichte vielleicht auch nicht, denn Jewtuschenko verstand sein Gedicht sehr deutlich als Ausdruck des Russischseins.

Es sind Propagandareden, wenn Wladimir Putin den Krieg als "Denazifizierungsprogramm" bezeichnet. Dazu bräuchte es keinen völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine, dieses Programm könnte in Russland selbst durchgeführt werden. Das ist schon lange bekannt, und das ist es, was es in Deutschland, besonders in Berlin, schwierig macht, den 8. Mai als Tag der Befreiung und der Hochachtung und des Respekts für die russischen Befreierinnen und Befreier – auch über 8.000 Polen kämpften hier und verloren ihr Leben – zu zelebrieren.

Deutlich rechtsradikal orientierte russische Gruppen zeigen alljährlich aus diesem Anlass Flagge. Die überwiegend in den 1990er-Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewanderten jüdischen Menschen hatten über ihre Zustände zu Hause ebenfalls keine fröhlichen Nachrichten zu überbringen.

Selenskji richtete sich ausdrücklich auch an alle Juden in der Welt und forderte sie auf, Stellung zu beziehen. Er warnte vor Nazismus und sagte: "Nazismus wird durch Schweigen geboren." Und weiter: "Es ist wichtig, dass ihr alle, Millionen Juden in der Welt, nicht schweigt." (Esther Dischereit, 8.3.2022)