Fluchtversuch über eine zerstörte Brücke aus dem Stadtteil Irpin nahe Kiew.

Foto: APA / AFP / Dilkoff

Die Bilder, die der US-Nachrichtensender ABC am Dienstag in die Welt schickte, wirkten nach fast zwei Wochen des Krieges nur allzu bekannt: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in tarnfarbener Jacke an seinem Schreibtisch im Kiewer Präsidentenpalast, hinter ihm die blau-gelbe Fahne seines Landes. Doch das, was Selenskyj sagte, war dann doch anders: Man könne sehr wohl über einen Verzicht auf einen Nato-Beitritt und den Status der Krim und der beiden Pseudo-Republiken im Osten der Ukraine, Luhansk und Donezk, diskutieren, sagte er. Eine Anerkennung aber komme weiter nicht infrage.

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Auch wenn ein Verzicht auf die von russischen Separatisten kontrollierten Gebiete – beziehungsweise die 2014 von Moskau annektierte Krim – damit für Kiew undenkbar bleibt – das Angebot zu verhandeln ist neu. "Wladimir Putin muss endlich in einen Dialog mit uns treten", rief Selenskyj jenem Mann zu, der vor 13 Tagen einen Angriffskrieg gegen sein Land losgetreten hat, der bis heute hunderte Tote gefordert und mehr als zwei Millionen Menschen in die Flucht getrieben hat. Am Donnerstag werden die Außenminister der Ukraine, Dmytro Kuleba, und Russlands, Sergej Lawrow, zu den ersten Gesprächen auf Ministerebene seit Kriegsbeginn im türkischen Antalya erwartet.

Korridor beschossen

Dort, wo nicht mit Worten, sondern mit Bomben und Granaten gefochten wird, zeichnet sich indes keine Entspannung ab. Zwar konnten sich einige Zivilistinnen und Zivilisten aus den belagerten Städten Sumy im Nordosten der Ukraine und dem Kiewer Vorort Irpin durch einen von Russland eingerichteten Korridor in Sicherheit bringen. Doch starben ukrainischen Angaben zufolge kurz zuvor erneut 21 Menschen bei einem russischen Luftangriff auf Sumy, darunter auch Kinder.

In der besonders schlimm von Beschuss betroffenen Hafenstadt Mariupol gelang wieder keine größere Evakuierung: Russische Truppen griffen den Korridor, durch den die Zivilbevölkerung in Bussen und Privatautos nach Saporischschja hätte gebracht werden sollen, mit Artillerie an, wie das ukrainische Außenministerium auf Twitter meldete: "Feuerpause gebrochen!" Auch das Rote Kreuz hielt eine Flucht aus Mariupol für zu unsicher.

Zuvor hatte das Moskauer Verteidigungsministerium erklärt, seine Kräfte hätten seit den Morgenstunden eine Feuerpause eingelegt, um den Menschen den Abzug aus Sumy, Kiew, Tschernihiw, Charkiw und – offenbar vergebens – Mariupol zu ermöglichen.

Gerade dort wird die Lage für die bis zu 200.000 Eingeschlossenen von Tag zu Tag katastrophaler. "Die Situation ist apokalyptisch", sagte Ewan Watson vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) am Dienstag. In der Stadt gingen alle Vorräte zur Neige. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hält die Berichte über russische Angriffe auf Evakuierungstransporte für glaubwürdig. "Zivilisten ins Visier zu nehmen ist ein Kriegsverbrechen, und es ist vollkommen inakzeptabel", sagte der Norweger am Dienstag.

Russland nicht unterschätzen

Über den Stand des Vorrückens der russischen Invasionstruppen gab es zuletzt unterschiedliche Berichte. Am Montag rechnete der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) damit, dass die russische Armee innerhalb der kommenden Tage erneut versuchen könnte, Kiew zu stürmen. Aktuell bereite man Gerät und Truppen darauf vor, auch mit Luftschlägen, um die Verteidigung der ukrainischen Hauptstadt zielgerichtet zu schwächen.

Am Dienstag erklärte der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowytsch hingegen, dass sich der russische Vormarsch "erheblich verlangsamt" und in einigen Gebieten aufgrund von Gegenangriffen "praktisch aufgehört" habe. Nahe Mariupol sei eine russische Panzerkolonne zerstört worden. Bei Bombardements in der Region Schytomyr seien zwei Öldepots zerstört worden.

Fachleute weisen darauf hin, dass zwar wegen der offenen Kommunikationskanäle aus der Ukraine umfangreich über russische Verluste berichtete wird, das Bild über jene der ukrainischen Truppen aber schwerer zusammenzusetzen sei, weil Kiew dazu schweige und Russlands Medien wenig über den Krieg berichten. Daher könne auch über die tatsächlichen Kräfteverhältnisse wenig gesagt werden. Warnungen gibt es davor, die russische Armee wegen des relativ langsamen Vorstoßes zu unterschätzen. Dies könne dazu führen, dass sich westliche Staaten leichter in einen größeren Konflikt mit Russland ziehen lassen, warnte am Montagabend der Militärexperte Michael Kofman in einem Podcast für die Plattform War On The Rocks.

Der ukrainische Präsident Selenskyj jedenfalls will weiter in Kiew ausharren, wie er in seinem ABC-Interview am Dienstag erklärte. Auf die Frage, was er sich von den USA wünsche, antwortete er auf Englisch: "Unterstützen Sie uns nicht nur mit Worten, sondern mit konkreten Schritten." (Manuel Escher, Florian Niederndorfer, 8.3.2022)