Sie glauben, Tiktok sei bloß etwas für pubertierende Teenager? Dann liegt das nicht an Tiktok, sondern an Ihnen. Denn die App des chinesischen Konzerns Bytedance ist verflixt gut darin, das Verhalten der Userinnen und User zu erfassen und dazu passende neue Inhalte auszuspielen. Wer also tendenziell bei Popmusik und Tanzvideos verweilt, dem werden auch künftig vermehrt solche Inhalte ausgespielt. Auf Gaming-Videos folgt noch mehr Zocker-Content, auf schlechte Witze meist noch schlechtere Kalauer. Trotzdem mengen sich darunter auch wohldosiert andere Clips – Ziel des Portals ist es schließlich, die Nutzer im Feed zu halten, Langeweile ist dem abträglich.

Präsentiert werden die Inhalte in Form kurzer Videos auf dem Smartphone. Mit einer Wischbewegung springt man zum nächsten Clip – und hängt oft minutenlang gebannt im Feed. Das Konzept geht so gut auf, dass die App in den vergangenen Jahren einen Höhenflug hingelegt hat: Im Herbst 2021 wurden über eine Milliarde Tiktok-Userinnen und -User vermeldet, davon waren 60 Prozent zwischen 16 und 24 Jahre alt. In Österreich wird Tiktok laut Jugend Internet Monitor von 57 Prozent aller Jugendlichen zwischen elf und 17 Jahren genutzt – ein Anstieg um 15 Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr.

Kern des Erfolgs ist vor allem der ausgefeilte Algorithmus, der äußerst gut darin ist, so gut wie immer den passenden Inhalt zu liefern. Die Details zur Funktionsweise sind freilich Geheimsache, allerdings hat Bytedance letztes Jahr ein paar Einblicke gegeben. So dient als erster Orientierungspunkt, welche Interessen Userinnen und User beim ersten Einloggen in die App angeben, danach wird alles durch das eigene Verhalten bestimmt. Dazu gehören vor allem die Interaktionen, also wie oft man ein Video mit Herzchen versieht, kommentiert oder teilt. Und auch die Inhalte der selbst hochgeladenen Videos werden analysiert, um die Interessen der Userinnen und User zu ermitteln.

Dabei geht es nicht nur um die Videos selbst, sondern auch um die damit verbundenen Hashtags, die Beschreibung, die verwendeten Filter und die genutzte Musik. Ebenfalls analysiert die App, ob ein Video bis zum Ende angesehen wurde, dann wird dieses als besonders relevant eingestuft. Und schließlich nutzt die App noch die Geräteeinstellungen, es werden etwa die eingestellte Sprache, der Standort und die Marke des Smartphones ausgewertet.

Ebendieser Datenhunger hatte in der Vergangenheit mehrfach für Kritik gegenüber der vor allem bei Teenagern so extrem beliebten chinesischen App gesorgt. Hinzu kam ein Ende des vergangenen Jahres veröffentlichter Leak interner Dokumente. Demnach wurde die App bewusst so gestaltet, dass sie bei jungen Menschen ein gewisses Suchtverhalten provoziert. Dem Siegeszug tun diese Bedenken jedoch keinen Abbruch. Und es scheint nicht so, als würde sich daran in nächster Zeit etwas ändern.

Boa und Bunker

Ricarda Opis, Redakteurin im Newsteam

Foto: Tiktok/Privat

Wenn ich demnächst nur noch mit einer neonfarbigen Federboa das Haus verlasse, ist Tiktok daran schuld. Der Algorithmus erkennt mit beängstigender Präzision meine Interessen – und übersteigert sie ins Unermessliche. Dass ich bunte Kleidung mag, hat er sofort erkannt. Seither darf ich zusehen, wie lässige junge Frauen himmelblaue Cowboystiefel mit neongrünem Faux Fur und Ananas-Ohrringen kombinieren. Tropical Maximalism heißt dieser Stil, informiert mich die App. Die Stimme der Vernunft, die mir sagt, dass man so etwas vielleicht auf Tiktok tragen kann, aber ganz bestimmt nicht im Supermarkt, ist neben den in Endlosschleife laufenden Musik- und Textfetzen leider wirklich schwer zu hören.

Die Outfits wechseln sich mit Sketches über die Geschichte Afghanistans ab, eine junge Wienerin schildert ein belangloses Alltagserlebnis mit so viel Schmäh, dass ich ihren Clip trotzdem mehrfach ansehe. Und dann taucht das blasse Gesicht einer Ukrainerin auf, die ihren Bombenschutzraum mit beißendem Sarkasmus wie ein Sternehotel bewertet. Das sind die Momente, in dem die Steinchen dieses grellen Kaleidoskops zusammenfallen und ein Bild ergeben, bei dem man länger verharrt. Der Algorithmus kann auch das.

Putin als Gegner

Max Leschanz, Videomoderator

Foto: Tiktok/Privat

Meine Tiktok-Bubble ist ein Ort voll von Games und Mangas. Der Krieg in der Ukraine hat meine "Für dich"-Seite aber nicht ignoriert. Zwischen Pokémon, Mario und noch mehr Pokémon mogeln sich politische Analysen von Youtubern, die mir die wahren Beweggründe Putins erklären wollen. Darunter eine tiefenpsychologische Analyse des russischen Präsidenten, die mir weismachen wollte, dass Putins psychologisches Profil viel eher Sauron entspreche als Darth Vader. Aktuell dominiert das Videospiel Elden Ring meinen Algorithmus. Doch selbst dieses Game bleibt von der Politik nicht verschont. Ein außerordentlich harter Spielgegner wird auf Tiktok mit dem russischen Präsidenten verglichen, der unterlegene Spieler mit seinen Ausweichmanövern als Ukraine bezeichnet.

Was für andere Katzenvideos sind, sind für mich Babyvideos. Beispielsweise ein Baby im Pikachu-Strampler, das vor der schwierigsten Entscheidung seines Lebens steht. Glumanda, Shiggy oder Bisasam? Tollpatschig krabbelt es in Richtung dreier Plüschtiere, um die relevanteste Wahl seines Lebens zu treffen.

Mein Tiktok-Algorithmus kennt mich recht gut. Videospiele, Anime, Mangas und hier und da etwas Geschichte. Ich kann mich nicht beklagen.

Zwischen Krieg und Liebe

Antonia Titze, Social-Media-Managerin

Foto: Tiktok/Privat

Ich sehe eine Teenagerin, die sich trotz großer Muskelpakete in ihrem Abschlussballkleid weiblich fühlt, und eine genderfluide Person, die sich nach ihrer Mastektomie präsentiert. Ich wische weiter. Ein Künstler zeichnet mit Kohle ein Porträt. Eine Frau liest ein Liebesgedicht vor. Eine andere erzählt, dass sie den Namen ihres One-Night-Stands nicht mehr weiß, dafür aber sein Sternzeichen. Es folgen Clips über Sextoys mit leeren Akkus, eine Frisurentransformation, ein lesbisches Paar, das sich über den positiven Schwangerschaftstest freut.

Eine Ukrainerin zeigt Aufnahmen ihres Alltags im Krieg. Man sieht zerstörte Gebäude, Trümmer. Zum Ende des Videos blendet sie in gebrochenem Englisch die Sätze ein: "I never can’t imagine how people felt in the Second World War. Now I’m living in this reality and feel scared of my life. Please, Putin, stop!" Ich swipe weiter. Eine Amerikanerin moderiert lachend ihr Video an: "Rating pictures from the worst years of my life." Es folgen Fotos, die kurz nach ihren gescheiterten Beziehungen entstanden. Ich schließe die App, deren Algorithmus zwar meine Sexualität und meine Liebe für Katzen kennt, aber nicht ahnt, wie perfide sie mir vor Augen führt, wie schön, grausam, witzig, banal und schließlich ungerecht das Leben sein kann.

Föhnwelle für Hunde

Lisa Stadler, Social-Media-Managerin

Foto: Tiktok/Privat

Ein Clip, der die Debatte über Lücken im Lebenslauf auf die Schippe nimmt. Ich wische weiter: ein Clip des österreichischen Users @onuaaak. Er echauffiert sich satirisch darüber, dass ukrainische Flüchtlinge als "bessere Flüchtlinge" gelten – unterlegt mit einem Zitat aus der Serie Inventing Anna, die ich auf Netflix verschlungen habe. Swipe. Hashtag #CorporateLife, eine Frau muss eine dämliche Schulung in der Firma absolvieren. Next. Ein Mann vergleicht das Leben vor und nach der Hochzeit – Spoiler: Danach ist es nicht mehr so romantisch. Eine Frau heißt die GIS willkommen, ich verstehe den Schmäh nicht.

Die Social-Media-Managerin der Sprachlern-App Duolingo verfrachtet ein Riesenmaskottchen in einen Lieferwagen. Eine Frau lackiert sich gekonnt die Nägel. L’Oréal-Paris-Werbung. Einem Hund werden mit dem Dyson Air Wrap Locken frisiert. Die Deutsche Welle zeigt ukrainische Flüchtlinge am Berliner Bahnhof. Ein Mann muss auf den Hometrainer, weil er zu viele Kekse gegessen hat. Sollte ich auch auf den Hometrainer? Wäre nicht schlecht. Danach lackiere ich mir vielleicht die Nägel beim Nachrichtenschauen. Algorithmus, du hast mich leider erwischt. Und wer holt mich jetzt da raus? Ich kann nämlich nicht mehr aufhören zu swipen. (Lisa Stadler / Antonia Titze / Maximilian Leschanz / Ricarda Opis / Stefan Mey, 9.3.2022)