Rechtswissenschafter Peter Bußjäger analysiert im Gastblog die österreichische Neutralität – und wie schnell sie beseitigt werden könnte.

Die russischen Stellen haben mit ihrer geharnischten Kritik an der Erosion der österreichischen Neutralität die seit Beginn der Invasion in der Ukraine laufende Diskussion über dieses Thema weiter angefacht. Die nachstehenden Überlegungen setzen sich mit der Frage auseinander, worin der rechtliche Gehalt der österreichischen Neutralität noch besteht.

Verfassungsrechtliche Vorgaben im Wandel

Unzweifelhaft hat das österreichische Neutralitätsverständnis seit 1955 eine beachtliche Wandlung erfahren. Die Teilnahme an den Sanktionen der EU wäre vor dem EU-Beitritt kaum als mit der Neutralität vereinbar betrachtet worden. Insoweit darf man das zögerliche Anschließen der Schweiz an die Sanktionen nicht nur als Ausdruck monetärer Interessen werten, sondern auch des Umstandes, dass die Maßnahmen durchaus Fragen aufwerfen.

Ausgangspunkt ist das Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs, in dessen Art. I Abs. 1 Österreich "zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes (…) aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität" erklärt. Österreich erklärt darin weiter, diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen.

In Abs. 2 wird bestimmt, dass Österreich "in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen wird."

Dieser recht eindeutige Wortlaut steht jedoch in Konflikt zu einer vergleichsweise unscheinbaren, weniger pathetischen und weniger eleganten, aber ebenso in Verfassungsrang stehenden Vorschrift, nämlich dem Art. 23j des Bunde-Verfassungsgesetzes (B-VG). Darin wird bestimmt, dass Österreich an der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU mitwirkt (Abs. 1) und angeordnet, dass der Bundeskanzler und der Außenminister bei Beschlüssen über die Einleitung einer Mission außerhalb der EU, die auch Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich "Frieden schaffender Maßnahmen" umfassen kann, das Stimmrecht im Einvernehmen ausüben. Abs. 4 bindet dieses Vorgehen im Ergebnis an die Zustimmung des Hauptausschusses des Nationalrates.

Die österreichische Neutralität ist dadurch zwar nicht erodiert, aber maßgeblich eingeschränkt worden. Russland hat freilich keinen Anlass, dies zu monieren: Rechtswissenschafter Andreas Th. Müller schreibt in der Publikation "Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht" über die Neutralität Österreichs, dass dieser Prozess, der mit dem österreichischen Beitritt zur EU seinen Anfang genommen hat, in der Staatengemeinschaft auf keinen Widerspruch gestoßen ist. Die Wandlung der österreichischen Neutralität ist somit völkerrechtskonform erfolgt. Sie war auch verfassungskonform, denn der spätere Art. 23j B-VG hat das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität inhaltlich abgeändert. Dazu kommt, dass die Neutralität kein sogenanntes Bauprinzip der Bundesverfassung bildet, dessen Einschränkung neben der Verfassungsmehrheit im Nationalrat und allenfalls auch im Bundesrat auch noch einer Volksabstimmung bedürfte, sondern vielmehr durch "einfaches" Bundesverfassungsrecht, wie eben den Art. 23j B-VG, abgeändert werden kann.

Österreich und neutral? Seit dem EU-Beitritt hat sich das stark geändert.
Foto: AFP/ODD ANDERSEN

Und das Unionsrecht?

Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik kann nicht nur aus dem neutralitätsrechtlich vergleichsweise unproblematischen Peacekeeping (Konfliktverhütung und Friedenserhaltung), sondern auch in "Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung, einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen" (Art. 43 des Vertrages über die Europäische Union – EUV) bestehen. Die neutralitätspolitische Problematik einer Beteiligung Österreichs bei derartigen Kampfeinsätzen liegt auf der Hand.

Freilich kennt das Unionsrecht einen Ausweg: Österreich kann sich gemäß Art. 31 Abs. 1 EUV in sogenannter konstruktiver Weise der Stimme enthalten, anerkennt den zustande gekommenen Beschluss als für die Union verbindlich, ist aber nicht verpflichtet, den Beschluss durchzuführen. Die Bestimmung ist eine Meisterleistung gemeinsamer Kompromissfindung und befreit Österreich von der möglichen Verpflichtung, an Maßnahmen teilzunehmen, die, weil der UN-Sicherheitsrat mit einem Veto blockiert ist, von der EU ohne die Deckung durch einen Sicherheitsratsbeschluss vollzogen würden.

Beistandspflicht?

Es kann aber noch heikler kommen: Gemäß Art. 42 Abs. 7 EUV besteht eine sogenannte Beistandspflicht im Falle eines kriegerischen Angriffs auf ein Mitglied der Europäischen Union. Aus dem Nicht-Militärbündnis EU wird damit ein Ad-hoc-Verteidigungsbündnis. Auch eine Teilnahme Österreichs an der Abwehr eines solchen Eingriffs wird von der herrschenden Meinung als mit Art. 23j B-VG vereinbar betrachtet.

Aber auch hier gilt: Eine Berufung auf die Neutralität im Sinne der sogenannten "irischen Klausel" ist unionsrechtlich möglich. Selbst im Kriegsfall wäre es demnach für Österreich unionsrechtlich zulässig, sich neutral zu verhalten.

In der Praxis wäre dies aber wohl nur Theorie. Die Vorstellung, dass Österreich bei einem ernsthaften kriegerischen Angriff auf einen EU-Mitgliedsstaat neutral bleiben könnte, ist weltfremd. Die Neutralität wäre dann wohl schnell und eben auf der Grundlage des Art. 23j B-VG beseitigt, ohne dass es einer Verfassungsänderung bedürfte. (Peter Bußjäger, 10.3.2022)