Kriegsverbrechen sind ein bisschen wie eine Matrjoschka-Puppe. Sie sind in ein größeres Unrecht verpacktes Unrecht – schließlich ist Krieg fast immer schon ein Verbrechen an der Menschheit an sich. Und je genauer man hinsieht, je mehr Matrjoschkas man öffnet, desto mehr dieser Verbrechen zeigen sich. Das Smartphone-Zeitalter verschärft diese Dynamik noch. Zerbombte Autos von zivilen Pensionisten, Granatenbeschuss von Familienhäusern und Krankenhäusern, verminte Fluchtkorridore oder die Leichen von Familien mit Kindern auf der Flucht in Richtung eines Evakuierungsbusses wären früher vielleicht lediglich vermutete Kriegsverbrechen gewesen, die mühevoll mittels Zeuginnenaussagen hätten rekonstruiert werden müssen. Heutzutage, im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, sind es für die Weltöffentlichkeit einsehbare dokumentierte Kriegsverbrechen, die seit Beginn der Invasion quasi tagtäglich zu beobachten sind.

Wenn der britische Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag davon spricht, dass es eine "hinreichende Grundlage für die Annahme gibt, dass sowohl Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine begangen wurden", dann ist das fachjuristisch nichts anderes als: Es finden aktuell Kriegsverbrechen statt – nur der gerichtliche Beweis steht noch aus. Man ist aber gewillt, sie zu untersuchen.

Karim Khan ist gewillt, mutmaßliche Kriegsverbrechen in der Ukraine zu untersuchen.
Foto: imago images

Dass sich mittlerweile auch 39 Staaten – inklusive Österreich – mit der Bitte um Untersuchung an den IStGH gewandt haben, beschleunigt den Prozess, mit dem Khan und sein Team sich an die Arbeit machen können. Auf ein Mandat des UN-Sicherheitsrats hätte man ob des russischen Vetos nämlich vergebens gewartet. Bereits vergangene Woche sind Teams zur Beweissicherung in der Ukraine eingetroffen.

Beweis- und Befehlsketten

"Der Chefankläger verwendet natürlich eine vorsichtige, juristische Formulierung", sagt Cuno Tarfusser, Generalstaatsanwalt in Mailand und ehemaliger Vizepräsident des Internationalen Strafgerichtshofs, im Gespräch mit dem STANDARD. "Aber ich würde sagen, dass eindeutig Kriegsverbrechen passieren, und das en masse." Genaueres werden die Ermittlungen des Strafgerichtshofs zeigen. Khan reiste dafür jedenfalls am Mittwoch bereits in die Ukraine. Laut Tarfusser dürfte der Beweis für die Ankläger aber nicht besonders schwierig werden. "Man wird in der Kommandokette ganz nach oben kommen, bis zu Putin." Schließlich gebe es nicht nur Zeugenberichte, sondern auch Bilder, Dokumente und Reden der Verantwortlichen in Russland – Smartphonezeitalter eben.

Vorsichtiger formuliert es die Völkerrechtlerin Astrid Reisinger Coracini von der Universität Wien. "Derzeit werden Unmengen an Daten gesammelt und zum Teil auf Social Media verbreitet." Das alleine reiche als Beweis aber nicht aus. Man sehe auf den Bildern etwa, dass Schulen beschossen werden. "Als Kriegsverbrechen gilt der Vorfall aber nur dann, wenn das Militär die Schule gezielt angreift oder zumindest als Kollateralschaden in Kauf nimmt", erklärt die Juristin. Ein gewisser "Grad" an zufällig "mitgetöteten" Zivilistinnen sei vom Kriegsrecht zwar gedeckt, die Befehlshaberinnen und Befehlshaber müssen das Risiko aber stets minimieren. Und wenn die erwartbaren Schäden in keinem Verhältnis zum eigentlichen Ziel stehen, dürfe das Militär eben nicht angreifen. Ein flächendeckendes Bombardement einer Stadt ist in jedem Fall verboten, wahlloser Beschuss ziviler Wohngebäude ebenso.

Bild nicht mehr verfügbar.

Die Reste eines Wohngebäudes in Borodjanka in der Nähe von Kiew.
Foto: REUTERS/Maksim Levin

Liegen Kriegsverbrechen vor, muss in einem zweiten Schritt auch die Befehlskette rekonstruiert werden. Strafbar machen sich aber nicht nur Vorgesetzte, die Kriegsverbrechen anordnen, sondern auch jene, die von Kriegsverbrechen ihrer Untergebenen wissen oder wissen müssten, aber nichts dagegen tun. Für eine Verurteilung würde es also reichen, wenn Putin weiß, dass zivile Opfer bewusst in Kauf genommen werden, aber nichts dagegen unternimmt. Fragt sich, inwiefern die angebliche Isoliertheit des russischen Präsidenten im Kreml da hineinspielt und ob seine Generäle tatsächlich die Wahrheit vor ihm verbergen, wie oft vermutet wird. Dass ein Ex-KGB-Offizier wie Putin sich aber von derart falschen Informationen blenden lässt, erscheint mindestens unlogisch.

Juristische Zwickmühlen

Juristische Probleme bereitet jedoch eine ganz andere, grundsätzliche Frage, erklärt Tarfusser: Weder Russland noch Belarus oder die Ukraine haben das Römische Statut, jenen Vertrag, der die Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs bildet, ratifiziert. Derzeit stützt sich Ankläger Khan bei seinen Ermittlungen daher auf zwei sogenannte Ad-hoc-Erklärungen der Ukraine, mit denen das Land infolge der gewaltsamen Niederschlagung der Maidan-Proteste und der Krim-Annexion die Verfolgung von Kriegsverbrechen auf seinem Territorium seit 2013 anerkannt hat. Die internationalen Ermittlerinnen können deshalb in der Ukraine tätig werden und Haftbefehle erwirken. Am Mittwoch bekräftigte Khan erneut das starke Mandat des IStGH.

Solange Russland seine mutmaßlichen Kriegsverbrecher nicht ausliefert oder sie im Ausland festgenommen werden, hat der Strafgerichtshof aber keine Handhabe.

Kaum Chancen am IGH

Ähnlich ergeht es der Ukraine an anderen juristischen Fronten: Kurz nach Beginn des russischen Angriffs initiierte das Land ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) der Vereinten Nationen, der – im Gegensatz zum Strafgerichtshof, der Einzelpersonen ins Visier nimmt – für Streitigkeiten zwischen Staaten zuständig ist. Russland hatte sein militärisches Eingreifen unter anderem mit der haltlosen Behauptung begründet, in der Ostukraine finde ein "Genozid" an der russischen Bevölkerung statt.

Bild nicht mehr verfügbar.

Ein Krankenhausgebäude in Isjum zwischen Charkiw und Luhansk.
Foto: VOLODYMYR MATSOKIN via REUTERS

Mit dem Verfahren vor dem IGH will die Ukraine dieser Argumentation den juristischen Boden entziehen. Und tatsächlich hat der IGH am Mittwoch "vorübergehende Maßnahmen" in einem Eilverfahren beschlossen. Russland solle sofort seine militärischen Aktionen sofort stoppen und es solle auch nicht unterstützen, dass sich weitere Parteien (gemeint sind damit wohl tschetschenische Kämpfer, von Russland bezahlte Söldner oder Belarus) in den Konflikt einmischen. Zudem forderte der IGH beide Konfliktparteien auf den Konflikt nicht weiter zu eskalieren.

Dass sich Russland, das an der mündlichen Verhandlung nicht einmal teilgenommen hat, daran hält, kann man aber ausschließen. Denn eine Möglichkeit, das Urteil durchzusetzen, hat der IGH nicht. Er kann zwar den UN-Sicherheitsrat anrufen, dort hat Russland allerdings ein Vetorecht. Auch einstweilige Maßnahmen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der Russland angewiesen hat, Angriffe auf die Zivilbevölkerung zu unterlassen, blieben bisher wirkungslos.

Kommt ein Ukraine-Tribunal?

In Zukunft könnte für den Krieg in der Ukraine theoretisch auch ein eigenes internationales Tribunal eingerichtet werden – so wie das etwa nach dem Jugoslawien-Krieg oder dem Völkermord in Ruanda der Fall war. 84 der 161 Angeklagten im Ex-Jugoslawien-Tribunal wurden verurteilt. Beide Gerichte wurden allerdings durch eine Sicherheitsratsresolution gegründet, was wieder am russischen Nein scheitern wird. Bisher einzigartig und juristisches Neuland wäre ein durch die UN-Generalversammlung eingerichtetes Tribunal, sagt Reisinger Coracini. Diese hat die russische Aggression immerhin schon mit nur fünf Gegenstimmen bei 141 Stimmen dafür verurteilt, allerdings auch bei 35 Enthaltungen.

Denkbar wäre freilich auch, dass sich ein Staat dazu entscheidet, mutmaßliche russische Kriegsverbrecher nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip anzuklagen. Das Prinzip besagt, dass Verbrechen auch vor nationalen Gerichten verfolgt werden können – unabhängig davon, wo die Straftaten begangen wurden, aber nur dann, wenn sich Angeklagte am Ort der Ermittlungen aufhalten. Zuletzt griffen deutsche und französische Behörden etwa im Verfahren gegen den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad und weitere Verantwortliche darauf zurück. Auch im Ukraine-Krieg hat der deutsche Generalbundesanwalt mittlerweile Ermittlungen aufgenommen. Es gebe konkrete Anhaltspunkte für bereits begangene Kriegsverbrechen, zudem sei zu befürchten, dass es zu weiteren Straftaten komme. Je mehr Staaten sich dem Weltrechtsprinzip anschließen, desto mehr Wirkung wird es entfalten.

Sollte Putin besser nicht mehr reisen?

Was aber heißt das alles konkret für Putins Angriffskrieg – mit der ausführlichen Hilfe des belarussischen Despoten Alexander Lukaschenko – in der Ukraine? Wird Putin demnächst in Den Haag landen, nachdem er bei einer Auslandsreise aufgrund eines internationalen Haftbefehls festgenommen und ausgeliefert wurde? "Das ist tatsächlich ein Szenario", sagt Reisinger Coracini, "aber wohl kein sehr wahrscheinliches." Besonders pikant: Es ist möglich, diesen Haftbefehl nicht öffentlich zu machen. Putin könnte womöglich also gar nichts davon wissen, dass er sich mit Staatsbesuchen in einem der 123 Länder, die das Römische Statut ratifiziert haben, in Gefahr bringt.

Bild nicht mehr verfügbar.

Assad und Putin in Damaskus vor rund zwei Jahren. Gegen beide laufen unter anderem Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen in Deutschland.
Foto: Alexei Druzhinin, Sputnik, Kremlin Pool Photo via AP

Weil der Internationale Strafgerichtshof keine Personen in Abwesenheit verurteilen kann – zumindest nicht, solange sie zur Gänze fernbleiben –, könnte ihm tatsächlich aber erst dann der Prozess gemacht werden, wenn er verhaftet und übergeben wurde. Dass dies geschieht, während Putin im Amt ist, ist noch unwahrscheinlicher. Im Fall des sudanesischen Diktators Omar al-Bashir erließ der IStGH 2009 zwar erstmalig einen Haftbefehl gegen einen amtierenden Regierungschef oder ein Staatsoberhaupt. Und vor dem IStGH genießen – zumindest nach vorherrschender Meinung – auch Staatsoberhäupter keine Immunität. Die Bereitschaft zu dessen Übergabe durch den Sudan wurde aber erst mehr als zehn Jahre später in Erwägung gezogen – nach dessen innenpolitischem Sturz. Ob es bei Putin jemals dazu kommen wird, bleibt offen.

Nach der Demontage

Das halten auch jene Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler, mit denen der STANDARD gesprochen hat, für die wahrscheinlichste Option, wie Putin tatsächlich hinter Gittern landen könnte. Zu heikel ist der Tanz auf dem diplomatischen Parkett mit einer Großmacht, wenngleich es rein völkerrechtlich eben entsprechende Judikatur gäbe, die die internationale Übergabe an Den Haag über die bilateralen Abkommen zur Immunität stellt. Rein realpolitisch gesehen muss man aber auch festhalten, dass ein sudanesischer und ein russischer Präsident nicht einmal ansatzweise das gleiche Gewicht auf die internationale Waage bekommen.

Sollte gegen Putin ein internationaler Haftbefehl erlassen werden, müsste er bei einem abermaligen Besuch in Österreich – wie hier 2018 in Graz – eigentlich umgehend festgenommen werden, da Österreich das Römische Statut ratifiziert hat.
Foto: imago/ITAR-TASS

Eher könnte es da noch ranghohe russische Generäle treffen, wenn diese als Kriegsgefangene in der Ukraine festgenommen werden oder von russischer Seite irgendwann fallengelassen werden und als Sündenbock herhalten müssen. Auch dann gelte es aber immer noch zu bedenken, dass "die politische und die juristische Zeit ja nicht parallel verlaufen", wie es Tarfusser elegant formuliert. Auch Reisinger Coracini weiß, dass die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen meist ein steiniger und langwieriger Weg ist: "Die Mühlen der Justiz laufen langsam, aber sie haben einen langen Atem", sagt sie. So schnell wird Putin also nicht eine Haftstrafe absitzen müssen. Aber irgendwann vielleicht?

Ächtung, das Maximum?

Bleibt dennoch die Frage, warum man sich diese ganze juristische Mühe und das viele Geld, das im Zuge der Beweismittelfindung und etwaiger Prozesse verbraucht wird, macht, wenn die Verantwortlichen letzten Endes ohnehin oft ungestraft davonkommen. "Natürlich erreicht man durch ein Urteil des Strafgerichtshofs internationale Ächtung", sagt Tarfusser. Diese sei politisch zwar auch schon durch die Resolution der Generalversammlung oder die vehementen Sanktionen erreicht, symbolisch wäre eine Verurteilung aber freilich ein "starkes Signal". Auch wenn diese höchstwahrscheinlich erst dann erreicht werden könnte, wenn Putin nicht mehr an der Macht ist.

Wie im Krieg spielt auch bei der Untersuchung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Zeit also eine entscheidende Rolle. Zeit, die Menschen, die vor den Schrecken des Krieges fliehen oder in den Kriegswirren kämpfen, nicht haben. Das ist auch ein Grund, warum sich Kriegstreiber wie Putin vor der internationalen Strafgerichtsbarkeit wohl nicht fürchten, bevor sie einen Angriffskrieg anzetteln. Putin habe sicher nicht an den Strafgerichtshof gedacht, als er in der Ukraine einmarschierte, sagt Tarfusser, so wie ein Bankräuber nicht vorab ans Gefängnis denke. Die vielen notwendigen Reformen des Völkerrechts, die es bräuchte, um Kriegstreiber noch schärfer zu bestrafen, scheitern aber wie so oft an der recht starren Nachweltkriegsarchitektur des Völkerrechts, das die verschiedensten Rechtssysteme und politischen Empfindlichkeiten unter einen Hut bringen muss, um den notwendigen Konsens zu erreichen. Bis dieses Problem gelöst ist, gilt es die Matrjoschka-Puppe so lange aufzuschrauben, bis zumindest die größtmögliche Wahrheit über diese Verbrechen ans Tageslicht gebracht wurde. (Fabian Sommavilla, Jakob Pflügl, 16.3.2022)