Bild nicht mehr verfügbar.

Schräge Warnungen Russlands lassen die Angst vor einem Einsatz von Chemiewaffen wachsen.

Foto: AP / Probst

Warnungen gibt es schon länger, nun werden sie aber ungewöhnlich deutlich. Russland, teilte US-Präsidenten-Sprecherin Jen Psaki am Mittwochabend mit, plane womöglich einen Angriff mit chemischen oder biologischen Waffen in der Ukraine. Vor dem Einsatz mit Chemiewaffen hatte auch US-Außenminister Antony Blinken bereits gewarnt, und zwar in einer Rede vor dem UN-Sicherheitsrat kurz vor der russischen Invasion der Ukraine.

Frage: Gibt es dafür tatsächlich Indizien?

Antwort: Das Ganze ist ein bisschen kompliziert und geht über mehreren Banden. Washington und London stützen sich in ihren Warnungen nämlich vor allem auf Meldungen aus russischen Staatsmedien in den vergangenen Tagen – und auf Aussagen der russischen Regierung. Diese warnen nämlich ihrerseits zunehmend vor der Gefahr, die von angeblichen Biowaffenlaboratorien in der Ukraine ausgehe, und berichten von "Beweisstücken" über Zusammenarbeit der Ukraine mit der Nato, die bei "dem Spezialeinsatz", also dem Krieg, gefunden worden seien. Auch Außenminister Sergej Lawrow warnte nach dem Treffen mit seinem ukrainischen Gegenüber davor. Ein Armeesprecher sagte zudem Donnerstagfrüh, ukrainische "Nationalisten" hätten sich nahe Charkiw tonnenweise Chemikalien besorgt. Und Präsident Wladimir Putin nannte vor zwei Wochen die vermeintlichen Bestrebungen der Ukraine, eine "schmutzige" Atombombe bauen zu wollen, als einen Grund für den Krieg. Genau diese Mischung nennen viele im Westen als Anlass für ihre Sorge. Der Kreml wolle ein Narrativ schaffen, mit dem ein möglicher Angriff mit solchen Waffen Kiew in die Schuhe geschoben werden könne. Das wiederum versucht der Westen abzuwenden, indem er vorab vor diesem Szenario warnt.

Frage: Sind die Aussagen aus Russland neu?

Antwort: Nein, ganz neu sind sie nicht. Sie entsprechen sogar einem relativ alten Muster aus dem Kalten Krieg, das sich später auch in Syrien mehrfach wiederholt hat. Dort warnte der Kreml immer wieder vor dem Chemiewaffeneinsatz durch Gegner des Assad-Regimes. Was daran nun aber viele beunruhigt, ist, dass es Einsätze von Chemiewaffen in Syrien ja tatsächlich gab – allerdings, wie die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) feststellte, vorwiegend durch das Assad-Regime selbst, das Russlands Verbündeter ist.

Frage: Nennt Moskau für seine Vorwürfe selbst denn Belege?

Antwort: Konkret vorgelegt hat Moskau bisher nichts, was die Vorwürfe belegen würde. Man beruft sich darauf, dass Beweise vor dem Krieg außer Landes geschafft worden seien. Immer wieder zitiert Russland eine Aussage der US-Außenstaatssekretärin Victoria Nuland vor einem Kongressausschuss. Sie wurde dort nach möglichen Biowaffen in der Ukraine gefragt und antwortete, es gebe in der Ukraine biologische Labore, die mit den USA zusammengearbeitet hätten und bei denen man nun Sorge habe, dass ihre Daten Russland in die Hände fallen könnten. Moskau interpretiert das als eine Art Eingeständnis. Tatsächlich hatte Nuland nur wiedergegeben, was öffentlich bekannt ist: Die USA arbeiten, besonders seit Covid-19, mit medizinischen Laboren auch in der Ukraine zusammen. In einigen Fällen finanzieren sie diese auch mit.

Frage: Muss man nun wirklich mit dem Einsatz solcher Waffen in der Ukraine rechnen?

Antwort: Gesagt ist das damit natürlich nicht. Es ist gut denkbar, dass die spektakulären Vorwürfe aus Russland auch einfach den Krieg in der Ukraine zusätzlich begründen sollen, der ja trotz repressiver Maßnahmen und immer strengerer Medienzensur auch innerhalb Russlands auf Kritik stößt. Denkbar ist auch, dass Moskau mit den aufsehenerregenden Botschaften von anderen Berichten über die Gräuel des Krieges und mögliche Kriegsverbrechen ablenken will – etwa vom Beschuss einer Geburts- und Kinderklinik am Mittwoch in Mariupol. Auch dafür gibt es Beispiele: Als 2018 die Nachrichten über den russischen Giftangriff auf den einstigen Geheimagenten Sergej Skripal und seiner Tochter Julia mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok in Großbritannien die Schlagzeilen dominierten, tauchten in russischen Medien Berichte über ein angebliches westliches Biowaffenlabor in Georgien auf. Diese stellten sich später als falsch heraus.

Frage: Was wären die Folgen, sollten Chemie- oder Biowaffen wirklich eingesetzt werden?

Antwort: Wirklich besorgt ist man im Westen derzeit eher in Sachen Chemiewaffen – auch weil Biowaffen für das an die Ukraine grenzende Russland selbst gefährlich wären. Von einer roten Linie für einen Militäreinsatz, wie sie Barack Obama einst in Syrien gezogen hat, will bisher niemand im Westen sprechen. Warnungen gibt es aber. Sollten wirklich Chemiewaffen eingesetzt werden, werde der Druck auf die Nato, sich direkt einzuschalten, sicher wachsen, sagte am Donnerstag der britische Vizeaußenminister James Heappey. (Manuel Escher, 10.3.2022)