Vor zwei Wochen hat Russland den Krieg nach Europa zurückgebracht." Mit diesem schlichten Satz beginnt die "Erklärung von Versailles", die die 27 EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag bei ihrem Gipfeltreffen im Schloss westlich von Paris abgaben. Die höchste Ebene der EU lässt nicht den geringsten Zweifel daran, wer allein die Schuld an der Katastrophe in der Ukraine trägt: Russlands Führung.

Gastgeber Emmanuel Macron begrüßt auf Schloss Versailles Olaf Scholz.
Foto: Ludovic MARIN / AFP

Jeder Satz in dem Dokument klingt wie eine fundamentale Anklage gegen Präsident Wladimir Putin, der freilich nicht beim Namen genannt wird. Russlands "unprovozierte und nicht zu rechtfertigende militärische Aggression" verletze massiv internationales Recht, bringe unaussprechliches Leid über die Bevölkerung: "Russland und sein Komplize Belarus tragen die volle Verantwortung für diesen Aggressionskrieg."

Man begrüße, dass der Internationale Strafgerichtshof (ICC) bereits die Angriffe auf die Zivilbevölkerung untersuche. Moskau werde dazu aufgerufen, die Waffen ruhen zu lassen, die Atomkraftwerke mithilfe der IAEA zu sichern, das Militär zurückzuziehen und die Souveränität der Ukraine anzuerkennen.

Historischer Ort Schloss Versailles

Der Erklärung kommt eine historische Dimension zu; nicht nur weil sie an einem besonderen Ort verfasst wurde: im Spiegelsaal des Schlosses Versailles. Dort war 1919 von den Großmächten der "Frieden von Versailles" verkündet worden, der Deutschland als am Ersten Weltkrieg allein Schuldigen nannte und mit riesigen Reparationszahlungen belegte. Viele EU-Diplomaten fühlten sich in der Tat an eine historische Krise erinnert.

Die EU-Regierungschefs berieten dazu zunächst gemeinsam mit EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, um dann bei einem Arbeitsessen über die Sicherheitslage in Europa weiterzusprechen. Gastgeber ist Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, die Wahl des Orts des Gipfels ist ihm quasi "passiert": Versailles war schon lange vor Beginn des russischen Angriffs fixiert worden.

Noch in Friedenszeiten wollte Macron seine Kollegenschaft über die Entwicklung einer eigenen EU-Verteidigungsunion bis 2030 reden lassen – und über die Wirtschaftslage bzw. die große Linie des wirtschaftlichen Umbaus hin zu einer klimagerechten Union. Das geschah auch am ersten Tag des Gipfels, aber unter völlig anderen Vorzeichen. In der Erklärung von Versailles sagen die 27 Staats- und Regierungschefs der Ukraine und ihrer Bevölkerung, deren "Mut bei der Verteidigung ihres Landes" gepriesen wird, jede erdenkliche Hilfe zu: "Wir lassen Sie nicht im Stich."

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Demonstration auf dem Platz vor Schloss Versailles am ersten Tag des EU-Gipfels.
Foto: AP Photo/Michel Euler

Es werde weitere finanzielle und humanitäre Hilfe geben, auch beim Wiederaufbau. Gegen Russland würden die Sanktionen weiter verschärft werden. Von einem aber sieht die EU ab: selbst direkt militärisch in den Krieg einzugreifen, um die russischen Angriffe zu unterbinden. Die EU-Chefs befürchten, dass Putin dies als "Kriegserklärung" des Westens interpretieren und als Vorwand für einen Angriff etwa im Baltikum nützen könnte.

Keine Mehrheit für EU-Beitritt

Debattiert wurde auch die Möglichkeit eines beschleunigten EU-Beitritts, den Kiew fordert. Dazu gibt es in der Union jedoch keine Mehrheit geschweige denn Einstimmigkeit. "Ein Land, das im Krieg ist? Nein", sagte Emmanuel Macron am Donnerstag vor Journalisten: "Heißt das, nie ein Beitritt? Das wäre ungerecht. Es geht darum, achtsam die Balance zu halten – auch wegen Georgien und Moldau, die ebenfalls einen EU-Beitritt wollen."

Auch einen EU-Importstopp für russisches Gas und Öl nach dem Vorbild der USA wird es wie erwartet so schnell nicht geben. Die Auswirkungen der EU-Sanktionen auf die Europäer müssten "möglichst gering" sein, sagte dazu der deutsche Kanzler Olaf Scholz. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte dazu, die EU solle ab 2027 kein russisches Gas oder Öl mehr importieren.

Neben all dem schienen die Beschlüsse zur künftigen EU-Militärunion fast unterzugehen. In der Schlusserklärung verpflichten sich die Regierungschefs dazu, Europas Sicherheit höchste Priorität einzuräumen. So soll das dafür vorgesehene EU-Budget erhöht werden. Die Staaten sind aufgerufen, mehr Geld in ihre Armeen zu stecken und diese auf EU-Ebene mit anderen Streitkräften zu harmonisieren.

EU-Beistandsverpflichtung

Auch will man Entwicklung und Produktion von Waffen und Ausrüstung ankurbeln. Und schließlich sollen sich alle zu einer "EU-Beistandspflicht" bekennen, wie sie bereits im EU-Vertrag von Lissabon angedacht ist. "Wenn ein Mitgliedsstaat auf seinem Staatsgebiet Opfer einer bewaffneten Aggression wird, sollen die anderen Mitgliedsstaaten eine Verpflichtung zu Hilfe und Unterstützung haben, mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen." Bisher war die Lesart, dass Neutrale sich solidarisch erklären, aber selbst militärisch nicht tätig werden. Wie sich das entwickelt, wenn es Richtung EU-Armee geht, ist offen.

Der Druck zur Beistandspflicht wächst jedenfalls – unabhängig von der Nato-Mitgliedschaft. Macron betonte jedoch, dass die EU-Militärunion nicht im Gegensatz zur Nato stünde, sondern die Europäer im Bündnis gestärkt werden sollen. (Thomas Mayer aus Versailles, 11.3.2022)