Mehr als eine Million Kinder sind derzeit auf der Flucht.

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Die Anlaufstellen für geflüchtete Menschen aus der Ukraine an den größeren Bahnhöfen Österreichs füllen sich. Anna Parr, Generalsekretärin und Leiterin des Krisenstabs der Caritas Österreich, über die für geflüchtete Frauen nun so wichtige Kinderbetreuung und den Zugang zum Arbeitsmarkt – und die Frage, was private Helfer:innen tun können.

STANDARD: Es sind vorwiegend Frauen, sehr viele mit Kindern, die flüchten. Wie geht es ihnen, wenn sie hier ankommen, und was brauchen sie?

Parr: Für alle Menschen, die zu uns kommen, ist es wichtig, dass es erste Anlaufstellen gibt, wo sie sich gleich willkommen fühlen. Wenn man in die Gesichter dieser Menschen schaut, sieht man, dass sie viel erlebt haben.

Wegen fehlender öffentlicher Transportmöglichkeiten zur Grenze gibt es zahlreiche private Initiativen. Viele bieten mit ihrem privaten Auto an, jemanden mitzunehmen. Da müssen wir einen Blick darauf haben, weil hier Frauen mit ihren Kindern zu wildfremden Menschen ins Auto steigen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es in der Ukraine sehr viele Waisenhäuser gibt. Diese Kinder haben also keinen Familienverband, außer dieser Gruppe, mit der sie im Waisenhaus lebten. Derzeit wird versucht, diese Waisenhäuser sukzessive zu evakuieren. Uns ist wichtig, dass diese Gruppen beieinanderbleiben können, wir werden uns besonders bemühen, Quartiere zu finden, dass diese Gruppen – es sind eigentlich auch Familien – zusammenbleiben können.

STANDARD: Was waren die ersten Schritte, als der Krieg gegen die Ukraine begann?

Parr: Wir traten gleich mit den Caritas-Verbänden vor Ort in Kontakt, wir sind als Caritas Österreich in der Ukraine schon seit 30 Jahren aktiv. Es gelingt bisher gut, die Angebote in der Ukraine aufrechtzuerhalten. Wir haben dort viele Kinderprojekte und Angebote für mobile Pflege, die für die Pflegebedürftigen aufrechterhalten bleibt, so es aus Sicherheitsüberlegungen noch möglich ist.

STANDARD: Wie sieht denn jetzt die Infrastruktur für Menschen aus, die nach Österreich kommen? Was ist da, was wird gebraucht?

Parr: Das ist derzeit jeden Tag ein bisschen anders. Es sind auch nicht nur Ukrainerinnen, sondern auch Drittstaatsangehörige, die natürlich auch auf der Flucht sind – und bereits mehr als eine Million Kinder. Wie viele davon unbegleitet sind, darüber haben wir noch keine Zahlen. Wir haben sehr früh eine Anlaufstelle am Wiener Hauptbahnhof installiert, es gibt auch eine in Linz, Salzburg und Graz. Dort werden Menschen betreut, beraten und weitervermittelt. In Wien gibt es auch Notschlafstellen, wo sie zumindest mal über Nacht bleiben können. Rund drei Viertel der Menschen, die in Wien ankommen, wollen in andere Staaten weiterfahren, meist aufgrund persönlicher Kontakte.

STANDARD: Was ist für die Menschen da, die hierbleiben?

Parr: In Österreich entsteht gerade eine große Infrastruktur. Einerseits Erstaufnahmequartiere, wo Menschen ein paar Tage – vielleicht zwei Wochen – bleiben können. Dann werden sie in eine Unterkunft vermittelt, wo sie dann länger bleiben können. Es ist etwas schwer abzuschätzen, wie viele Unterkünfte wir brauchen. Die Schätzungen liegen zwischen rund 85.000 und 150.000 Plätzen, die wir brauchen könnten – derzeit gehen wir aber von Tag zu Tag. Es hängt von den Kriegshandlungen vor Ort ab und davon, wie viele Menschen sich auf den Weg machen.

STANDARD: Was braucht es abseits der ersten Anlaufstellen und ersten Unterkünfte?

Parr: Wir brauchen entsprechend den Bedürfnissen von Kindern Unterkünfte, dass es die Möglichkeit für sie gibt, Kind sein zu können. Und wir müssen auch auf längerfristige Rechtssicherheit schauen: die EU-Richtlinie, dass alle, die hierherkommen, einen schnellen Arbeitsmarktzugang bekommen sollen und Kinder in die Schule gehen können; hier ist es wichtig, dass die Regierung über den Weg von Verordnungen rasch Klarheit schafft. Die Kinder müssen in einen Kindergarten integriert werden, es muss ukrainisch sprechende Betreuung geben.

Anna Parr: "Wir müssen auch auf längerfristige Rechtssicherheit schauen."
Foto: Caritas Österreich

Und es ist wichtig, dass die Mütter arbeiten gehen können, um sich selbst erhalten zu können. Wir brauchen also Kinderbetreuung, Schulzugänge und Arbeitsmarktzugänge – wenn diese akute Phase überstanden und verarbeitet ist. Die Frauen und Kinder sind traumatisiert, sie müssen auch Zeit haben, hier anzukommen. Wir schauen, dass sie nicht nur juristische Beratung bekommen, sondern auch, so gut es geht, psychologische Unterstützung.

STANDARD: Gibt es die mittelfristigen Unterkünfte schon?

Parr: Teils gibt es sie schon, teils sind sie noch im Aufbau. Für die Erstquartiere ist primär die BBU (Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Anm.) zuständig, und die Länder haben die Verantwortung, die sogenannte Grundversorgung – ein schreckliches Wort – sicherzustellen. Das alles läuft jetzt parallel. Die Länder haben Krisenstäbe eingerichtet, auch in enger Abstimmung mit den NGOs, die vor Ort die Betreuung übernehmen. Wegen der schwierigen Einschätzung, wie viele Quartiere es braucht, ist die enge Einbindung der NGOs, der Länder und des Bundes essenziell. Wir brauchen alle denselben Informationsstand, um das gemeinsam gut zu bewerkstelligen.

STANDARD: Was sind die Unterschiede zur Fluchtbewegung von 2015?

Parr: Wir alle scheuen ein wenig den Vergleich zu 2015, weil die Situation tatsächlich eine andere war. Die aktuelle Flüchtlingsbewegung kündigt sich in langsameren Schritten an, das gibt uns mehr Zeit, alles vorzubereiten. Wir als Caritas haben durch unser Netzwerk mit den Organisationen und anderen NGOs vor Ort die Chance, gut zu erkennen, wann Menschen in Richtung Österreich und in Richtung Mitteleuropa weiterziehen, wir können das deshalb besser vorbereiten.

Und es gibt heute natürlich mehr Erfahrung als 2015. Wir wissen, in welchen Quartieren die Flüchtlinge damals untergebracht waren, und womöglich stehen die noch zur Verfügung. Wir fangen also nicht bei null an. Wir können, was Infrastruktur und was Kooperation betrifft, auf dem Netzwerk von damals hervorragend aufbauen, und das tun wir auch.

Und auch die geografische Nähe macht einen Unterschied, sie ermöglicht es uns, binnen kurzer Zeit vor Ort und in den Nachbarstaaten Hilfsleistungen anzubieten. Wenn ein Lkw hier wegfährt, ist er kurze Zeit später an der Grenze, wo die Unterstützung benötigt wird.

STANDARD: Was kann man als Privatperson tun?

Parr: Es gibt viele Menschen, die jetzt einfach selbst losfahren und Hilfsgüter bringen. Das ist menschlich großartig, aber es bringt die Organisationen vor Ort unter Druck, weil es eine zusätzliche Herausforderung für sie bedeutet. Wir bitten alle: Macht das nicht. Bitte abwarten, bis wir ganz den Bedarf kennen – dann können wir Aufrufe starten, was konkret gebraucht wird, und diese Hilfslieferungen gezielt dorthin bringen, wo sie gebraucht und auch gelagert werden können. Die dringliche Bitte unserer Partner im Ausland ist, bitte keine Freiwilligen an die Grenzen zu schicken, da es auch dort vor Ort sehr viele Freiwillige gibt, die helfen. Es ist fast überall eine unglaubliche Solidarität erlebbar, beispielsweise auch in Polen, wo an der Grenze geholfen wird.

Wir haben als Caritas in Österreich die Plattform fuereinand.at geschaffen. Dort kann man melden, was man gerne tun möchte. Je mehr Herausforderungen und Angebote hier in Österreich entstehen, desto mehr sind wir auf freiwillige Helferinnen und Helfer angewiesen. Wir werden dann über diese Plattform auch gezielte Aufrufe machen. (Beate Hausbichler, 12.3.2022)