Der deutsche Historiker und Publizist Karl Schlögel beobachtet Russland und die Ukraine seit vielen Jahren.

Foto: Imago

Tausende Tote und 119 Milliarden Euro Schaden forderte der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bereits. Der deutsche Osteuropa-Historiker Karl Schlögel – Verfasser von Büchern wie Entscheidung in Kiew (Hanser 2015) und Das sowjetische Jahrhundert (C. H. Beck 2017) – kennt sowohl die Ukraine als auch Putins Russland gut.

STANDARD: Hielten Sie einen Angriff Wladimir Putins auf die Ukraine persönlich für denkbar?

Schlögel: Dass er von vier Seiten über das Land herfällt, das hat mich am Morgen des 24. Februar dann doch auch erwischt. Ich hatte am Vorabend noch mit einem Kollegen in Lemberg telefoniert. Wir hatten überlegt, ob wir nicht eine Delegation von Schriftstellern nach Kiew schicken sollten, um gegen den Abzug der diplomatischen Vertretungen etwas zu unternehmen. Aber das war dann schon überholt.

STANDARD: Sie kennen die beiden Länder seit vielen Jahren. Wie hat sich die Ukraine seit 2014 verändert?

Schlögel: Ich bin jetzt auch seit der Pandemie nicht mehr dagewesen, aber die Atmosphäre ist einfach unvergleichlich im Vergleich mit dem, was vorher war, und vor allem, was in Russland ist. Das sind weltoffene Städte geworden durch diese hunderttausenden Menschen, die im Westen gearbeitet haben. Es gab einen Modernisierungsschub, überall sind neue Flughäfen gebaut worden, die wirkliche Zeichen der Öffnung zur Welt waren. Es gab einen Tourismusboom. Wenn man im Sommer in Lemberg war, war das fast schon ein bisschen zu viel, eine Art Venedig- oder Prag-Effekt. Der Aufschwung der IT-Branche ist kein Mythos, das hat wirklich stattgefunden. Aufbruch und Zuversicht bei allen Schwierigkeiten, das war mein Eindruck. Es war ein Land, das sich darauf konzentrierte, die eigenen Verhältnisse in Ordnung zu bringen und endlich voranzukommen. Das ist mit diesem Angriff, der alle Kräfte absorbiert, alle zivilen Kräfte an die Front bindet, vorläufig zu Ende. Aber der Krieg zeigt auch die Kräfte und die Potenz, die sich in der Ukraine gebildet haben.

STANDARD: Viele mutige Menschen gehen in Russland gegen den Krieg demonstrieren, die breite Masse aber schweigt. Wie schätzen Sie das ein?

Schlögel: Ein russischer Kollege hat mich sehr überrascht, indem er darauf hinwies: Als 1939 die Deutschen Polen angriffen, gab es keine einzige Demonstration von Deutschen gegen den Krieg. Das hat mich sehr nachdenklich gemacht. In Russland gibt es gegenwärtig an vielen Orten und in fast allen Berufszweigen so ein Murmeln des gesunden Menschenverstands. Da passiert etwas.

Dass die Masse noch nicht in Bewegung gekommen ist, das hat mit einem zähen Fortleben dieses imperialen Bewusstseins zu tun. Putin ist ein Meister in der Bewirtschaftung einer nach wie vor imperialen Mentalität. Das kann aber ganz rasch umkippen. Wenn die Mütter mitkriegen, was mit ihren Kindern passiert, wenn die Soldaten mitkriegen, wo sie eigentlich sind, kann das Kettenreaktionen auslösen. Meines Erachtens ist das jetzt angesichts des Widerstands der Ukrainer schon eingetreten. Ich bin mir sicher, dass dieser Krieg große Erschütterungen in der russischen Gesellschaft nach sich ziehen wird.

STANDARD: Die Sanktionen sollen das Regime von Putin treffen, bleiben aber ein umstrittenes Instrument, für die einen zu wirkungslos, für die anderen treffen sie auch die einfachen Leute in Russland. Was kann man tun?

Schlögel: Ich muss da selber lernen, denn diese Fülle der Sanktionen ist offensichtlich historisch etwas Neues. Es kommt mir so vor, dass es in dieser global gewordenen Welt neue Formen der Auseinandersetzung neben dem klassischen Kräftemessen und Krieg gibt. Unmittelbar auf den Kampf am Boden werden die Sanktionen keinen Einfluss haben. Meine Gedanken kreisen mehr darum, ob nicht das Potenzial des technisch Möglichen stärker eingesetzt werden könnte, um den ukrainischen Kampf zu unterstützen. Mir kommt vor, dass die Fixierung auf den roten Knopf, den Putin drücken kann, uns irgendwie lähmt.

STANDARD: Putin ist als Subjekt im Zentrum der ganzen Angelegenheit. Gab es seit seiner Machtübernahme 2000 auch Momente, in denen er vielleicht ein anderes Russland hätte ermöglichen können, eines, das mit dem Westen in gutem Einvernehmen wäre?

Schlögel: Es gab Augenblicke, in denen er klar fasziniert war von der Vorstellung, Russland könnte ein modernes Land werden. Aber er ist Fleisch vom Fleisch des Imperiums, erst des sowjetischen und immer stärker auch des russischen. Es gibt ein Buch, das ich jetzt erst zur Kenntnis genommen habe: Das dritte Imperium (2006) von Michail Jurjew. Da ist zum Teil wörtlich schon formuliert, was sich jetzt abspielt. Putin hat den Ausweg Russlands aus diesem Modell blockiert, das ist das Schreckliche, dass er die Russen aus diesem überholten Zustand nicht herauslässt. Deswegen auch seine fast körperlich sichtbare Abneigung gegen eine freie Aufarbeitung der Vergangenheit im 20. Jahrhundert.

STANDARD: Er selbst zeigt sich indes auch als Präsident fast wie ein Geschichts-Nerd.

Schlögel: Seine einstündige Rede ist für mich die Entfaltung seiner ganzen Persönlichkeit, darin kommt er zu sich selbst. Man kann ihm anmerken, dass er vollständig erfüllt ist von diesem imperialen Russland. Das ist nicht bloß angelesen, sondern er verkörpert die Traumatisierung durch eine nicht bewältigte Vergangenheit durch seine ganze Art: wie er spricht, wie er seufzt, wie er stöhnt, in Hassrede verfällt, spöttische Nebensätze einflicht. Das ist ein zutiefst aufgewühlter, von Obsessionen und Komplexen getriebener Mann. Insofern verkörpert er ein Land, das mit seinen eigenen Problemen nicht fertig geworden ist. Putin ist ein Verhängnis.

STANDARD: Hatte er nach Boris Jelzin aber überhaupt eine Chance, die Probleme Russlands zu lösen?

Schlögel: Jelzin hatte ein Zutrauen, dass das Land das schon irgendwie macht. Putin ist ein zu kleiner Mann für dieses große Land, er ist jemand, der der Gesellschaft, dem Volk, den Regionen überhaupt nichts zutraut. Das ist der Blick der Staatspolizei, des harten Kerns des Imperiums, der geblieben ist. Dieser Kern ist nach dem Zerfall der äußeren Strukturen der Sowjetunion überhaupt erst voll zur Entfaltung gekommen.

STANDARD: Wie haben Sie den Sonntag erlebt, als mit einer Sitzung im Deutschen Bundestag die Koordinaten für eine kommende Sicherheitspolitik umrissen wurden?

Schlögel: Ich habe gesagt: Endlich, endlich, endlich kommt das zur Sprache. Die politische Klasse ist endlich in einer Realität, die sich schon lange abgezeichnet hat, angekommen. Was mich skeptisch stimmt, waren die Geschlossenheit und die Reibungslosigkeit.

Ich traue dieser verbalen Entschlossenheit nicht ganz. Es geht einfach nicht so einfach. Dieser Beifall hatte auch Züge von Flucht aus einer unbewältigten Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte. Vieles, was uns jetzt um die Ohren fliegt, ist offizielle Politik gewesen in den letzten zwanzig Jahren. Das hatte ein Element von Selbstberuhigung. Das Aufgewühltsein kommt noch. Die Prüfung steht noch bevor. (INTERVIEW: Bert Rebhandl, 13.3.2022)