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Putins Begeisterung für Kant klang nachhaltig ab.

Foto: AP / Mikhail Klimentyev

Es gab Jahre, in denen Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation, zu besonders feierlichen Gedenkanlässen Immanuel Kant zitierte. Am Königsberger Aufklärer schätzte er noch 2005 dessen strikte Ablehnung von Gewaltmitteln: Jede Lösung von Streitigkeiten müsse selbstverständlich "friedlich" zustande kommen. Doch Putins Begeisterung für den transzendentalen Analytiker der Verstandesbegriffe klang in der Folge nur allzu nachhaltig ab.

Aus dem Jahr 2014, genauer gesagt, aus Anlass des damaligen Neujahrsfestes, ist eine eigenwillige Geschenkaktion des Kreml-Fürsten überliefert. Putin händigte an die versammelte Clique von Top-Funktionären – alles Gefolgsleute und Pfründeempfänger – von ihm eigenhändig ausgesuchtes Lesefutter aus.

Bei den Büchern handelte es sich um Theoriewälzer: manische Beschwörungen von Russlands Sonderstellung, Erklärungen seiner heilsgeschichtlichen Eigenart. Unter den Werken fanden sich historische Erweckungsschriften von Nikolai Berdjajew, von Wladimir Solowjow, von Iwan Iljin. Nichts erinnerte freilich mehr an Kant, an dessen Konzept des "Weltfriedens". Putin machte Ernst.

Wider alle Verlockungen

Iljin (1883–1954) ist die schillerndste Erscheinung unter lauter national-chauvinistischen Impulsgebern. Diesen Antisemiten und Hitler-Bewunderer trieb am lebhaftesten die Urangst vor Russlands Zerstückelung um. Vor "Zügellosigkeit und Versklavung", verkörpert durch den sündigen, liberalen Westen, könne Russland nur durch eine nationale Diktatur gerettet werden.

Unermüdlich propagierte Iljin, der Emigrant, den heilsgeschichtlichen Auftrag seiner alten Heimat. Wider alle Verlockungen durch die westliche Dekadenz müsse das metaphysische Russland wiederauferstehen. Sogar die Angst vor einer unabhängigen Ukraine artikulierte er bereits 1950. Er befürchtete das unwiderrufliche Abgleiten des brüderlichen Landes in den deutschen Einflussbereich.

Wladimir Putins aggressiver Neo-Imperialismus schöpft aus einem verwirrend reichhaltigen Theoriefundus. Der oftmals schwärmerischen Deklaration der "russischen Seele" entspricht ein bemerkenswert unfrohes Hadern mit der eigenen geopolitischen Lage.

Russland, heute ein transkontinentaler Raum von rund 17 Millionen Quadratkilometern Grundfläche, bildete, je nach Gemütsverfassung und Stimmungslage, für seine gebildeten Bewohner Anlass zur Hoffnung wie zur Depression. Die enorme "Leere" des Landes wurde ebenso reiflich (und selbstkritisch) bedacht wie seine umfassenden, integrativen Fähigkeiten. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert zerbrach man sich die Köpfe über ein entweder zu groß oder viel zu klein geratenes Land. Wahlweise ein "Korridor", eine "Brücke" – oder eben auch eine Masse ohne festen Horizont, deren Bewohner und Benützer sich selbst befremdeten.

Maternale Eigenschaften

Als "Mütterchen", als "feuchte Mutter Erde", besitzt das heilige, orthodoxe Russland maternale Eigenschaften. Es erscheint aber wahlweise auch als "Jungfrau", "unberührt geblieben von den Anfechtungen irdischer Interessen" (Pjotr Tschaadajew), von Liberalismus und schnödem Konsum. Seiner schönen "Allweltlichkeit" wegen (Fjodor Dostojewskij) eigne Russland sich überhaupt als Resonanzraum für alles Fremde. Erst in ihm versöhne sich die Welt gewissermaßen mit sich selbst.

DER STANDARD

Die vergifteten Früchte einer solchen, in ihren Anfangsstadien gewiss ehrwürdigen Psychogeografie genießt heute, wer sich in das Werken und Wirken des langbärtigen Erweckungspredigers und Agitators Alexander Dugin (60) vertieft. Dugins Plädoyer für eine radikale Neubesinnung Russlands, notwendig geworden durch den Machtkollaps von 1991, stützt sich auf die Idee des "Eurasismus".

Dugin pfeift auf Errungenschaften wie die universelle Geltung der Menschenrechte, auf Liberalismus und individuelle Freiheit. Dieser Mann, in den 1990ern noch Vorsitzender der Nationalbolschewistischen Partei, lehnt strikt alle Globalismen ab. Er plädiert stattdessen für die Wiederherstellung alter Größe und nimmt dafür Krieg und Gewalt in Kauf.

Weil der Westen Lug und Trug verbreite, sei im Umgang mit ihm jede Lüge gerechtfertigt. Dugins Träume enthalten Soldatenstiefel; sie bilden die direkte Fortsetzung chauvinistischer Großmannssüchte. Wider "postmoderne Werte und freien Markt" könne nur "revolutionärer Faschismus" den Funken zum Überspringen bringen. Kein Wunder somit, dass Dugin die Ukraine als "Vorposten des Westens" in ihrer jetzigen Form nicht akzeptiert. Das Wort von den "Kriegstreibern" in Kiew hat Wladimir Putin bei Dugin entlehnt.

Die konsequente Verkehrung von Wahrheit und Unwahrheit ist das ultimative Zerrbild: gemalt in Farben der Omnipotenz. Seine imperiale "Raison" bildet Gewalttätigkeit. (Ronald Pohl, 12.3.2022)