Als Wladimir Putin im Juni 2014 in der Wirtschaftskammer zu seinem Platz schreitet, wird er von Österreich fast demütig empfangen. Alle im Saal stehen auf und klatschen. Der russische Präsident quittiert es mit einem Nicken, von seinen Lippen lässt sich ein "Danke" ablesen. Dass wenige Monate zuvor russische Soldaten völkerrechtswidrig die ukrainische Halbinsel Krim an sich gerissen haben, das scheint hier niemanden zu stören.

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Im Gegenteil, man ist bester Laune. Als der ehemalige Präsident der Wirtschaftskammer, Christoph Leitl, davon spricht, dass ein Teil der Ukraine einmal zu Österreich gehört hat, fragt Putin, was das heißen solle, ehe er anfügt: "Ich habe Angst zu hören, was er weiter sagen muss." Es folgt Gelächter, und der frühere Bundespräsident Heinz Fischer streichelt die Schulter seines russischen Gastes. Er versichert ihm, dass schon nichts passieren werde.

Es ist eine Szenerie, die dieser Tage oft herangezogen wird, um das enge, wohl viel zu enge Verhältnis zu illustrieren, das Österreich über Jahrzehnte zu einem russischen Despoten pflegte. "Roter Teppich mit Schleimspur" nannte das der grüne Vizekanzler Werner Kogler unlängst ätzend in der ZiB 2. Kogler gab "den Herrschaften der Wirtschaftskammer" eine Mitschuld daran, Österreich mit solchen Auftritten überhaupt erst in diese massive Abhängigkeit von Erdgas aus Russland hineingeritten zu haben, was diese schroff von sich wiesen.

Erpressbarkeit und Ängste

Dass russisches Gas hierzulande 80 Prozent des Gesamtbedarfs ausmacht, ist so oder so fatal. Das macht erpressbar und schürt Ängste, dass inmitten eines von Putin angezettelten Krieges in der Ukraine die Wohnzimmer plötzlich kalt bleiben könnten, die Energiekosten weiter explodieren und Produktionen stillgelegt werden müssen. Die heimische Politik steht massiv unter Druck, rasch für Alternativen zu sorgen. Auch, weil die fortlaufenden Gaslieferungen die russische Invasion in der Ukraine mitfinanzieren.

Ex-Kanzler Christian Kern (SPÖ): "Gas war günstig".
Foto: Regine Hendrich

Aber wie konnte es passieren, dass sich Österreich derartig von einem Land abhängig gemacht hat? Gab es keine Alternativen? Und hätte man nicht spätestens nach der Krim-Annexion wirtschaftlich wie politisch auf Distanz zu Putin gehen müssen?

Nicht nur im Rückblick wirkt Österreichs Haltung zu Putins Russland eigenartig. In der Wirtschaftskammer wurde lauthals aufgelacht, als Putin ihren Langzeitpräsidenten Leitl einen "guten Diktator" nannte. Vier Jahre später tanzte Ex-Außenministerin Karin Kneissl (FPÖ) auf ihrer Hochzeit mit Putin und versank vor ihm in einem Hofknicks. Bis heute hält Kneissl einen gut dotierten Aufsichtsratsposten im russischen Ölkonzern Rosneft. Die Ex-Kanzler Christian Kern (SPÖ; russische Staatsbahn) und Wolfgang Schüssel (ÖVP; Lukoil) legten ihre Mandate mittlerweile zurück – Schüssel nur widerwillig.

Österreich und Russland, das funktionierte trotz aller augenscheinlichen Schaurigkeiten Putins über Jahrzehnte.

Pipeline quasi vor der Haustür

"Um das zu verstehen, muss man zurückblicken in die Besatzungszeit", sagt Walter Iber, Dozent am Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Eine zentrale Rolle spiele die OMV, früher ÖMV. "Ihre Vorgeschichte ist sowjetisch", sagt Iber, der dazu auch ein Buch mit dem Titel Die Sowjetische Mineralölverwaltung (SMV) in Österreich (Studienverlag 2011) verfasst hat.

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Aus der SMV ging nach dem Staatsvertrag 1955 die ÖMV hervor. "Man hat sich gekannt, es gab Netzwerke und eine Pipeline quasi vor der Haustüre, die Gas aus Sibirien bis in die Tschechoslowakei brachte und dicht vor dem Eisernen Vorhang geendet hat", sagt Iber. Die Anschlussleitung war rasch gebaut.

Später freute man sich allerdings auch darüber, dass russische Konzerne wie Lukoil oder Sberbank in Wien ansässig wurden. EU-Sanktionen gegen Russland trug man zwar mit, gehörte aber nie zu jenen, die auf Verschärfung drängten. Man ließ einander leben und lebte voneinander. So hängte man sich in den vergangenen Jahren auch im Gasgeschäft fast zur Gänze an den russischen Tropf.

In die Abhängigkeit gelenkt

"Österreich und die OMV wurden von einer Gruppe von Leuten, allesamt Putin-Versteher, gezielt in eine Abhängigkeit von Russland gelenkt", polterte der im Unfrieden ausgeschiedene frühere OMV-Chef Gerhard Roiss kürzlich in einem Interview mit Profil. Politiker und "Austro-Oligarchen" hätten die Nähe zum Kreml gesucht. Sein Nachfolger Rainer Seele, in Putins Russland bestens vernetzt, sei der ideale Erfüllungsgehilfe dafür gewesen.

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Zeichen der Freundschaft: Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bei Wladimir Putin, im Vordergrund Ex-OMV-Chef Seele und Gazprom-Chef Miller.
Foto: Reuters / Sputnik

An Roiss’ Demontage soll der frühere Aufsichtsratschef der damaligen Staatsholding ÖIAG, Siegfried Wolf, entscheidend beteiligt gewesen sein. Später wird ein gewisser Thomas Schmid, einst mächtiger Generalsekretär im Finanzministerium, dem Unternehmer Wolf wegen eines Steuernachlasses zur Hilfe eilen – auch weil er Wolfs Kontakte nach Russland für nützlich gehalten haben soll. Heute ist die Sache ein Fall für Korruptionsermittler.

Aus dem Umfeld von Seele wird Roiss’ Ausritt in Abrede gestellt. Dieser wolle von eigenen Fehlentscheidungen – etwa teuren Investitionen in der Nordsee – ablenken. Nicht zuletzt durch das Engagement in Russland sei es gelungen, die Produktionskosten der OMV extrem zu senken. Über höhere Gewinnausschüttungen habe auch der Staat profitiert. Aber nicht nur der.

Berater und Helfer

So wurde Hans Jörg Schelling (ÖVP) kurz nach seiner Zeit als Finanzminister für einige Monate Berater bei Gazprom und kümmerte sich um das umstrittene Nord-Stream-2-Projekt, das von der OMV mitfinanziert wurde. Der Konzern hat erst 2018 die Gaslieferverträge mit Russland im Beisein von Putin und Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bis 2040 verlängert. Sogar eine Ausweitung der Bezugsmenge war angedacht. Nun droht der OMV durch ihr Russland-Engagement ein finanzielles Fiasko.

Ex-Kanzler Christian Kern tut sich allerdings schwer, das gesamte Russlandgeschäft als Fehler abzutun. Österreich wollte vor vielen Jahren nicht mehr auf Kohle setzen und "aus gutem Grund" auch nicht auf Nuklearenergie, sagt Kern. Erneuerbare Energien wie Windräder oder Photovoltaik-Parks hätten vielfach Widerstand von Landschaftsschützern und Raumplanern erzeugt. Russisches Pipelinegas sei eine im Vergleich günstige und selbst in frostigsten Zeiten sichere Bank gewesen.

Dass Türkis-Grün kürzlich nach Abu Dhabi und Katar reiste, um hektisch Ersatz für russisches Gas zu finden – und dennoch mit leeren Taschen zurückkehrte –, zeigt eines deutlich: wie spät man sich aus heutiger Sicht darum kümmert und dass dort, wo es viel Öl und Gas gibt, keine demokratisch gewählten Regierungen sind, mit denen man verhandeln könnte. Für Kern ist es ein Schritt vom Regen in die Traufe.

"Aus Bewusstsein gedrängt"

Ex-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP): "Russland war verlässlicher Partner".
Foto: Imago / Chromorange

"Wenn wir sagen, dass es aus politischen Gründen falsch ist, sich von den Russen abhängig gemacht zu haben, dann ist es inkonsequent, in Ländern Öl und Gas zu kaufen, die im Jemen hunderttausende Todesopfer zu verantworten haben oder islamistische Terrororganisationen mitfinanzieren", sagt der Ex-Kanzler. Abhängigkeiten gebe es, wo man hinsehe, etwa beim EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei, wir hätten sie bloß aus dem öffentlichen Bewusstsein gedrängt: "Putins Aggression konfrontiert uns jetzt mit unbequemen Wahrheiten."

Kerns ehemaliger Vize, Reinhold Mitterlehner (ÖVP), sieht das genauso. Im Nachhinein wäre es vermutlich besser gewesen, die Energiequellen stärker zu diversifizieren und auf Distanz zu Putin zu gehen. Doch dass dieser einmal einen solchen Angriffskrieg ausführen werde, habe man einfach nicht für möglich gehalten.

Die Krim-Annexion sei damals noch als Sonderfall betrachtet worden, weil man die dortige Bevölkerung als prorussisch einschätzte. Manche hätten wohl auch Vorteile aus der Abhängigkeit für sich bezogen, sagt Mitterlehner. Das müsse aber jeder selbst wissen. Aber der Ex-Wirtschaftsminister steht dazu, dass Russland in den vergangenen Jahrzehnten ein verlässlicher Partner gewesen sei, von dem Österreichs Wirtschaft massiv profitiert habe.

Wie es weitergehen wird mit den österreichisch-russischen Beziehungen ist offen. So eng, wie sie einmal waren, werden sie nach den einschneidenden Erfahrungen im Umgang Russlands mit einem Nachbarland sicher nicht mehr. Und das Gas? Wird vermutlich weiter fließen, wenn auch mit immer weniger Druck. (Jan Michael Marchart, Günther Strobl, 13.3.2022)