Offen ist nicht nur die Frage, ob es neue Restriktionen gibt, auch das Schicksal der Impfpflicht ist unklar. Strategisches Kalkül spricht gegen das Vorhaben – eine mögliche Herbstwelle dafür.

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Es ist Donnerstagnachmittag, gerade wurden die meisten Neuinfektionen seit Ausbruch der Pandemie bekannt, bundesweite Maßnahmen gibt es kaum noch; im Grunde findet nichts anderes als Durchseuchung statt. Die Corona-Kommission tagt schon seit mehr als einer Stunde. Es ist jenes Gremium, das durch die Corona-Ampel bekannt wurde. Sie zeigt an, in welchem Risikobereich sich die Regionen des Landes befinden. Am Donnerstag wird ganz Österreich wieder auf Rot gestellt: Sehr hohes Risiko soll das heißen. Überall.

In dieser Form hat sich das nicht in den Prognosen abgebildet. Einige Landeshauptleute macht das ziemlich zornig: Die Expertinnen und Experten hätten die Regierung und die Länder in Corona-Fragen nicht gut beraten, hört man aus schwarzen Büros.

In der Corona-Kommission sitzen Fachleute, aber auch Vertreterinnen und Vertreter aller Bundesländer und des Kanzleramts. Vorsitzende ist Katharina Reich, oberste Gesundheitsbeamtin im grünen Gesundheitsressort und auch Chefin des anderen staatlichen Corona-Gremiums: Gecko. In der Kommission entspinnt sich eine Debatte über die Aufhebung fast aller Maßnahmen am 5. März.

Unvorsichtige Ankündigungen

Ein Kommissionsmitglied argumentiert, dass die steigenden Zahlen auch auf die frühe Ankündigung der Lockerungen zurückzuführen sein könnten – schließlich hatte die Regierung sie bereits Mitte Februar verlautbart. Heute hört man selbst aus der schwarz-grünen Koalition, dass das womöglich etwas vorschnell war.

Oberste Gesundheitsbeamtin Katharina Reich: Ihre Rolle in der Gecko-Kommission sorgt für Rätsel.
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In der Kommission wird nun kritisiert: Vielleicht habe bereits das Versprechen zu mehr Leichtsinn in der Bevölkerung geführt. Jetzt habe man den Salat. Der Vertreter eines Bundeslandes fragt nach, ob man nicht bloß noch Erkrankte mit Symptomen in Quarantäne schicken könne. Reich soll geantwortet haben, dass es darauf wohl ohnehin bald hinauslaufe. So schildert es jemand, der dabei war.

Mehrere Bundesländer sprechen sich auch dagegen aus, die Krankheit durch die Bevölkerung einfach "durchlaufen" zu lassen. Einig sind sich fast alle, dass viele Spitäler längst wieder stark belastet seien – und man etwas tun müsse. Kurz vor 16 Uhr spricht sich Reich dafür aus, dass die Kommission die Wiedereinführung von Maßnahmen empfehlen solle. Es wird ein Text formuliert und beschlossen: Die Kommission rät zur "bundesweiten Wiedereinführung von geeigneten Präventionsmaßnahmen". Doch in der folgenden Pause wird die Empfehlung geleakt und durch die Nachrichtenagentur publik gemacht.

Eilig geänderte Einschätzung

Aus der Pause kehrt Reich zuerst nicht zurück, sie habe einen "wichtigen Anruf" entgegennehmen müssen. Erst um 17.40 Uhr taucht sie wieder auf – nun mit dem "dringenden Appell", die Empfehlung zu ändern, wie erzählt wird. Reich habe sich plötzlich gegen das Wort "Wiedereinführung" ausgesprochen. Ein Sitzungsteilnehmer fragt nach, warum sich die Einschätzung innerhalb einer Stunde geändert haben soll. Es kommt zu einem kleinen Wortgefecht.

Aber die Empfehlung wird neu formuliert: "Aufgrund des steigenden Trends und der steigenden Belastung der Normalstationen empfiehlt die Corona-Kommission die Umsetzung geeigneter Präventionsmaßnahmen", heißt es dann. Das Wort "Wiedereinführung" wurde gestrichen.

Kam es etwa zu einer politischen Intervention? Wer hatte angerufen? Reich selbst war für keine Stellungnahme zu erreichen. Aus dem Gesundheitsministerium bekam DER STANDARD die Antwort: "Die Sitzungen der Corona-Kommission finden in vertraulichem Rahmen statt und können daher auch nicht weiter kommentiert werden." Die inhaltlichen Ergebnisse der Sitzung seien jedoch "selbstverständlich öffentlich zugänglich" – gemeint sind die Ampel-Schaltung und die finale Risikoeinschätzung.

Die Bevölkerung verlieren

Aber was leitet die Politik nun aus der Empfehlung der Kommission ab? Stehen neue Restriktionen bevor?

Kommt die Maskenpflicht zurück? Gesundheitsminister Johannes Rauch bremst: "Eine Verschärfung der Corona-Maßnahmen wenige Tage nach der weitgehenden Öffnung wäre der Bevölkerung nicht vermittelbar."
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Das Gesundheitsministerium winkte Donnerstagabend erst einmal ab: "Wir müssen sehr darauf achten, Akzeptanz und Verständnis in der Bevölkerung nicht zu verlieren. Eine Verschärfung der Corona-Maßnahmen wenige Tage nach der weitgehenden Öffnung wäre der Bevölkerung nicht vermittelbar." Am Freitag war aus Regierungskreisen zu hören, dass baldige Nachschärfungen aber selbstverständlich auch nicht ausgeschlossen werden könnten. Was das bedeuten kann? In der Sitzung der Corona-Kommission hatten sich etwa manche für ein Comeback einer weitreichenderen Maskenpflicht ausgesprochen.

"Für was werden die zahlreichen Kommissionen eingerichtet, wenn man sie nicht ernst nimmt?", wirft SPÖ-Gesundheitssprecher Philip Kucher ein. Er fordert, dass Expertinnen ohne Einflussnahme ihre Arbeit machen können. "Das ist doch alles eine Farce", findet der Oppositionspolitiker.

Von der Regierung wurden Fachleute zuletzt gerne zitiert und in die Auslage gestellt – insbesondere die Gecko-Chefin Reich. Auch in der Koalition wird auf zu optimistische Prognosen verwiesen, allerdings verhaltener als vonseiten mancher Länder: Fachleute seien eben auch keine Hellseher. Aber waren es wirklich falsche Voraussagen, die Regierung und Landeshauptleute in die aktuelle Situation geritten haben?

Die Frage des Höhepunktes

Tatsächlich hatten die Verantwortlichen, ehe sie sich zur Aufhebung fast aller Corona-Maßnahmen entschlossen, Rat der Expertenschaft eingeholt. Am 15. Februar legte Gecko eine Ad-hoc-Einschätzung vor: Nach Überschreiten des Omikron-Peaks seien Lockerungen "sehr gut möglich" – und ebendieser Höhepunkt wurde für Anfang März erwartet. Bei der Festlegung auf den Stichtag 5. März für das Gros der Öffnungen ist die Politik also tatsächlich den Fachleuten gefolgt. Allerdings konnte es die Regierung nicht erwarten und ließ bereits zwei Wochen davor die 2G-Regel fallen.

Eine andere Frage ist hingegen jene nach dem Ausmaß der Öffnungen. Der Gecko-Bericht bot diesbezüglich keine Vorschläge, auch in den Unterredungen zwischen Fachleuten, Regierung und Ländervertretern waren die konkreten Schritte dem Vernehmen nach kaum ein Thema. Das entspricht dem Selbstverständnis der Kommission: Für das Design der Maßnahmen sei die Politik zuständig.

Prompt wehrten sich beteiligte Experten etwa gegen Vereinnahmung, als Bildungsminister Martin Polaschek den Fall der Maskenpflicht mit angeblichen Empfehlungen der Wissenschaft begründete. Diese Lockerung war dann auch jene, die auf die meiste Kritik stieß. Den Entschluss zur Generalöffnung können Regierung und Länder folglich schwer auf die Experten schieben.

Fakt ist aber auch, dass in den Voraussagen noch am 1. März von einem "Plateau" der Infektionen gesprochen wurde, erst eine Woche später war von einem Anstieg die Rede. Zwar lagen schon früher Modellrechnungen vor, in denen der Trend nach oben ging, doch im Bericht landete der Mittelwert der Prognosen – und dieser ergab eine stabile Lage. Auch wenn die tatsächliche Entwicklung noch innerhalb der Schwankungsbreite abgedeckt ist, räumte der Simulationsforscher Niki Popper in der "ZiB 2" ein: Man habe die Auswirkungen der Lockerungen zu wenig eingepreist.

Vor der pandemischen Feuerprobe

Ob die Öffnung zu früh gekommen seien, lasse sich dennoch nicht so eindeutig beantworten, sagt Peter Klimek vom Complexity Science Hub, ein weiteres Mitglied des Prognose-Konsortiums. Geht es allein darum, das Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch zu schützen, dann nein – denn ein Kollaps zeichne sich nicht ab. Ist es aber auch ein Ziel, die Spitäler aus dem Krisenmodus zu holen, dann ja – schließlich müssen Operationen wegen Überlastung nach wie vor verschoben werden.

DER STANDARD

Offen ist aber nicht nur die Frage, ob es neue Verschärfungen gibt. Am Mittwoch wurde die Impfpflicht ausgesetzt – zumindest vorerst. Spätestens in drei Monaten soll eine neue Evaluierung der Impfpflichtkommission vorliegen. Die Vorgeschichte bezeichnen selbst langjährige Regierungsmitarbeiter als Kommunikationsdesaster.

Über Wochen war eine Impfpflicht von allen Seiten ausgeschlossen worden, ehe nach einem Treffen der Landeshauptleute im November plötzlich das Gegenteil verkündet wurde. Doch bald schon wurde an dem Plan wieder gerüttelt – nicht zuletzt von den Erfindern selbst.

Dahinter steckt eine Angst: Eine Impfpflicht könnte bei den vier nahenden Landtagswahlen Wähler zur Impfskeptikerpartei MFG treiben. Die Causa könnte deshalb zur pandemischen Feuerprobe werden. Wenn die Fachleute vor dem Herbst empfehlen, das auf Eis liegende Impfpflichtgesetz zu reaktivieren, lässt sich an der Reaktion von Regierung und Landeshauptleuten ablesen, was mehr Gewicht hat: politstrategische Überlegungen oder der Versuch eines stringenten, wissenschaftlich fundierten Corona-Managements. (Katharina Mittelstaedt, Gerald John, 12.3.2022)