Shakespeares "Sturm" führt im Burgtheater auf eine Insel voller Gesänge. Bei Caliban (Florian Teichtmeister links neben Johannes Zirner) gleicht es einem Brüllen.

Foto: Matthias Horn

Wien – Der Mythen-fitte isländische Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson (Edda, Peer Gynt, Odyssee) lässt in Shakespears Sturm am Burgtheater Naturgeister wandeln und Zauberwelten erstehen. Nur eben anders. Es schweben keine Elfen über grünem Gras, vielmehr liegen auf der Insel des Prospero (Maria Happel) Popsongs aller Art sirenengleich in der Luft. Als würden die Rolling Stones aus Baumritzen säuseln (You Can’t Always Get What You Want) oder Abba aus dem Erdloch die Unterlegenheitshymne The Winner Takes It All schmachten.

Mit einem kleinen Band-Set-up um das Klavier von Gabriel Cazes ziehen die Schauspielerinnen und Schauspieler samt den von ihnen immer live und formidabel gesungenen Melodien soghaft ihre Drehbühnenkreise. Kann das je Shakespeare werden? Es kann. Auch wenn Exegetinnen und Verskunstfreunde wenig Futter vorfinden werden.

Selbstbewusst steht "Der Sturm von William Shakespeare" im Programmheft geschrieben, in der Übersetzung von Gabriele Groenewold. Arnarssons Inszenierung aber erspart sich einen Gutteil des Textes und nimmt sich stattdessen Zeit für die Melancholie dieser hier verhandelten, nie eintretenden politischen Utopie: kein machtpolitisches Denken mehr, kein repressives Herrschaftssystem, ein Staat ohne Staat.

Politisch marod

Schön wär‘s. Das Gegenteil dieser Vision findet statt. Denn auf dieser Zauberinsel, auf die der rechtmäßige Herzog von Mailand, Prospero (Maria Happel), einst verbannt wurde, offenbart sich durch das Experiment eines Fake-Sturms die allzu menschliche Schlechtig- und Blödigkeit. Motto: Mach deinen Nächsten am besten gleich zum Untertanen.

Aber der Reihe nach. Der mit Zauberkräften gesegnete Prospero inszeniert mithilfe seiner Geister, allen voran Ariel (Mavie Hörbiger), und dem weiland zum Sklaven gemachten Hexenkind Caliban (Florian Teichtmeister) einen Sturm auf See und lässt damit seine einstigen Widersacher Schiffbruch erleiden. Vor Jahren hat ihn sein eigener Bruder Antonio (Johannes Zirner) mithilfe des Königs von Neapel (Michael Maertens als Alonso) und dessen Bruder (Dietmar König) um den Herzogsthron in Mailand gebracht. Und schon wird rückblickend zum Gospelsong When the Saints Go Marching In in die Tasten gehauen und Lou Reeds Perfect Day intoniert.

Dem auf der Insel gestrandeten, politisch maroden neapolitanischen Hofstaat sollen die Gehirne zurechtgerückt und eine Lektion erteilt werden. Noch mehr. Manche treffen im Schlaf auf die bessere Version ihrer selbst und träumen von einem herrschaftsfreien Naturzustand, direkt formuliert nach Montaigne. Vor allem der Rat Gonzalo (Roland Koch) schwelgt kurz nach dem Angespültwerden von einem gewaltfreien Gemeinwesen. Er trägt Pilzkopffrisur und singt auch dementsprechend gut, allerdings keinen Ton von den Beatles, sondern Fly Me to the Moon sowie den Täuschungstraumsong Mister Sandman.

Läuterungsplan

Turmhoch aufragende, verspiegelte Bühnengerüste ziehen mit der Drehbühne ihre Bahn und nehmen dann und wann auch den Publikumssaal ins Bild. Zwingend erweist sich das teilweise behangene Gestänge nicht (Bühne: Elín Hansdóttir), und das Programmheft offenbart auch warum: Sie wurden eigentlich für die pandemiebedingt abgesagte Peer Gynt-Produktion entworfen. Auch ein gigantischer Zeltplanenbaldachin, den über ein Dutzend Techniker aufziehen, offenbart seine Notwendigkeit nicht. Den melancholischen Fluss des Abends befördern diese Prozesse aber doch. Ebenso tut dies ein Technikerballett mit Wassersaugern, die nach dem Sturm penibel sauber machen.

Prospero (Happel) setzt seinen Läuterungsplan mit Strenge um. In beschmutztes Unschuldsweiß gewandet (Kostüme: Karen Briem) dirigiert er die Subjekte von Zauberhand. Seine Tochter Miranda (Lili Winderlich) möge die Rückgewinnung des verlorenen Herzogtums durch eine Heirat noch krönen. Und sogleich verliebt sich der hübsche Ferdinand (Nils Strunk) punktgenau in Miranda. Da hilft alles Don’t Wanna Fall in Love nichts.

Slapstick

Während Alonso & Co rätselhafterweise keine weitere Beachtung mehr geschenkt wird, konzentriert sich Arnarsson im letzten Drittel auf Slapstick (mit Mobiklo) und damit auf eines der Shakespeare-Paradeduos Trinculo und Stephano, ihres Zeichens Hofnarr (Maertens) und Kellermeister (Koch). Markiert als zwei Ulrich-Seidl-Entertainer in Rüschenhemden buhlen sie um den des irrsten Brüllgesangs mächtigen Sklaven Caliban (Teichtmeister) und träumen von eigenen Königreichen, möge der Flecken Erde auch noch so schäbig sein.

Während des lange auslaufenden, am Ende auch merklich luftlosen Abends muss befürchtet werden, dass sich die schlechte Welt weiterdrehen wird wie bisher. Daran lässt die vor allem auf Atmosphäre und einer erstaunlich unaufdringlichen Medley-Stimmung basierende Inszenierung keinen Zweifel. Zu ihrer Kennmelodie könnte man das aus den Tiefen der Bühne tönende Lied Alles renkt sich wieder ein von Gustav aka Eva Jantschitsch wählen, eine gemütlich intonierte Untergangsfantasie. Apokalypse unabwendbar, aber bitte mit Katharsis! (Margarete Affenzeller, 13.3.2022)