Armin Wolf vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof – für eine "ZiB 2 History" 2020 über 100 Jahre österreichische Bundesverfassung.

Foto: Screenshot ORF TVthek

Wien – Zeitgerecht zur letzten Sitzung des Stiftungsrats am Donnerstag und vor der Neubestellung des obersten ORF-Gremiums schreibt Armin Wolf seinen Aufsichtsräten: Ihr Bestellungsmodus widerspreche der Verfassung.

Wolf beruft sich bei seinem Befund auf einen gewichtigen Zeugen: Christoph Grabenwarter, Präsident des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) und einer der renommiertesten Rundfunkrechtler des Landes.

Konvention verletzt

Der ZiB 2-Anchorman stieß auf einen Beitrag Grabenwarters über Rundfunkfreiheit in einem Standardwerk zum deutschen Grundgesetz. 2018 hielt der österreichische Rundfunkrechtler in diesem Aufsatz zu Aufsichts- und Leitungsorganen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sehr deutlich fest:

"Herrscht in den Organen eine zu große Mehrheit von Vertretern der Regierungspartei(en), wird Artikel 10 EMRK verletzt", also der Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention über die Freiheit der Meinungsäußerung.

Am Sonntag nahm Wolf das Fundstück zum Anlass für einen Blogbeitrag über die Verfassungswidrigkeit des ORF-Gesetzes in diesem Punkt. Denn: Die Europäische Menschenrechtskonvention, auf die sich Grabenwarter bezieht, steht in Österreich im Verfassungsrang.

"Ganz eindeutig – zu große Mehrheit"

Im ORF-Stiftungsrat gebe es diese große Mehrheit von Vertretern der Regierungspartei(en) "ganz eindeutig", stellt Wolf in seinem Blogbeitrag fest, nicht durch historischen Zufall, "sondern aufgrund des gesetzlich festgelegten Bestellvorgangs". Sein Schluss: "Die Zusammensetzung des Stiftungsrats verletzt demnach die österreichische Verfassung. Anders lässt sich der (heutige) Präsident des österreichischen Verfassungsgerichts nicht interpretieren."

Die 35 Mandate im Stiftungsrat des ORF beschicken laut Gesetz:

  • Bundesregierung (9)
  • Parteien im Nationalrat (6)
  • Bundesländer (9)
  • ORF-Betriebsrat(5)
  • ORF-Publikumsrat (6).

Regierungsparteien bestimmen neben neun Regierungsmandaten zumindest drei der sechs Parteimandate und sechs Mandate des ORF-Publikumsrats, rechnet Wolf vor. Die Mehrheit im ORF-Publikumsrat – 17 von heute 31 Mandaten – bestimmt seit 2014 der Bundeskanzler oder die Medienministerin – aus Vorschlägen gesellschaftlicher Gruppen. Als Verteilungsschlüssel für diese sechs Stiftungsratsmandate vereinbaren die Koalitionen schon lang drei zu drei.

Neun Regierungssitze, drei Parteimandate, sechs Publikumsräte ergeben 18 von 35 Mandaten. Dazu kommt ein wesentlicher Teil der neun Bundesländermandate für Regierungsparteien. Derzeit sind sechs der ÖVP zuzurechnen.

Mit diesem Bestellungsmodus kamen die beiden Regierungsparteien SPÖ und ÖVP im Generalswahljahr 2016 auf gemeinsam 26 Mandate. ÖVP und FPÖ besetzten ab 2018 zusammen 19 Mandate im Stiftungsrat von 35. Und seit 2020 kommen ÖVP und Grüne auf 21 Mandate. ÖVP-nahe Räte haben seither allein die einfache Mehrheit, mit der sie etwa 2021 die Bestellung von Roland Weißmann bestimmt haben.

"Keine realistische Chance"

Ab Mai – Publikumsrat und Stiftungsrat werden bis Mai turnusmäßig neu beschickt – werden es voraussichtlich 24 Sitze für ÖVP und Grüne (Grafik). Die Grünen dürften jene drei Mandate des Publikumsrats bekommen, die seit 2018 Freiheitliche halten. Eine Zweidrittelmehrheit, betont Wolf, und erinnert an die "zu große Mehrheit von Vertretern der Regierungspartei(en)", die die Menschenrechtskonvention verletzt.

Aber der Befund über die Verfassungswidrigkeit hilft nicht weiter, stellt Wolf fest. Das "bizarre Problem" damit schildert Wolf so:

"Man kann gegen diese Verfassungsverletzung in der Praxis kaum vorgehen. Es existiert keine realistische Chance für den ORF, den Redakteursrat oder für ORF-Kundinnen und -Kunden, die verfassungswidrige Bestellung vor den VfGH zu bringen. Dafür müsste nämlich jemand in seinen konkreten Rechten verletzt werden und das durch mehrere Instanzen bekämpfen. Doch die eklatante Missachtung der Unabhängigkeit des Rundfunks durch den Bestellmodus für sein oberstes Organ verletzt niemanden konkret in seinen Rechten."

"Übergroßer Einfluss der Politik müsste ausgerechnet von Politiker:innen bekämpft werden"

Allein ein Normenkontrollverfahren könnte diese Gesetzesbestimmung vor den Verfassungsgerichtshof bringen. Ein solches Verfahren könne nur eine Landesregierung oder ein Drittel der Abgeordneten im Nationalrat verlangen. Wolf: "Der übergroße Einfluss der Politik auf den ORF müsste also ausgerechnet von Politiker:innen bekämpft werden. Die daran – wenig überraschend – wenig Interesse haben."

Jedenfalls wenn die heutigen Oppositionsparteien auf Regierungsbeteiligung und dann Regierungseinfluss auf den ORF hoffen. Ein Drittel der Abgeordneten würde die Opposition schon stellen.

Wolf rechnet nicht damit: Wie schon bisher werde der Stiftungsrat bis Mai "nach einem Gesetz bestellt, das offenkundig verfassungswidrig ist. Dass dadurch die Menschenrechtskonvention und die Verfassung verletzt werden, wird weiterhin niemanden interessieren." (fid, 13.3.2022)