Der Philosoph Jürgen Mittelstraß plädiert für eine Neuausrichtung der ÖAW als "Arbeitsakademie".

Foto: Marcus Cyron

Die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) wählt am Freitag einen neuen Präsidenten. Der Wahl stellen sich Ex-Bildungsminister Heinz Faßmann, der Ex-Direktor des Naturhistorischen Museums, Christian Köberl, und der Kulturwissenschafter Michael Rössner. Sie müssen die 1847 gegründete Gelehrtengesellschaft und 25 Grundlagenforschungsinstitute managen und in die Zukunft führen. Was wäre zu tun in der ÖAW?

Der deutsche Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß ist Mitglied in mehreren wissenschaftlichen Akademien – darunter auch korrespondierendes Mitglied der ÖAW. Er sieht drei potenzielle Reformbereiche: die Doppelstruktur der ÖAW, die interne Organisation und das Verhältnis zur Öffentlichkeit bzw. Politik. Da warnt er vor einer Institutionalisierung der Politikberatung: "Ich mag das Wort Politikberatung nicht." Warum? Weil es in der Wissenschaft um "Objektivität und Wahrheit" gehe, in der Politik hingegen um "Macht und Wirksamkeit". Das gehe schlecht zusammen. Gesellschaftsberatung sei angesagt.

STANDARD: Sie sind Mitglied in mehreren wissenschaftlicher Akademien, darunter korrespondierendes Mitglied im Ausland der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Außerdem waren Sie sechs Jahre lang Präsident der Academia Europaea. Wo sehen Sie Reformbedarf in der ÖAW?

Mittelstraß: Der aktuelle Reformbedarf ist im Grunde der alte. Das heißt: Das Problem liegt darin, beides zu sein – Trägerin wissenschaftlicher Einrichtungen und Gelehrtenakademie in einem. Im ersten Fall zählen die Forschungsinstitute und ihre Bedürfnisse, im zweiten Fall zählt allein die besondere wissenschaftliche Reputation. Wenn man Glück hat, kommt beides zusammen. Aber das ist dann eher doch der Ausnahmefall. Dieses Problem scheint mir, obwohl darüber in einer Reformdebatte hin und her diskutiert wurde, nach wie vor nicht gelöst zu sein.

STANDARD: Warum nicht?

Mittelstraß: Na ja, wenn man als Akademie erst einmal Trägerin von bedeutenden wissenschaftlichen Einrichtungen ist, dann verabschiedet man sich ungern von diesen. Ich fürchte aber, dass man sich wirklich in der einen oder der anderen Richtung entscheiden muss. Wenn man Forschungsträgerin im genannten Sinne ist, muss man im Grunde zum Beispiel darauf verzichten, das gesamte wissenschaftliche Spektrum abzubilden. Dann geht es im Wesentlichen um institutsbezogene Strategieüberlegungen, Programme, spezifische Berufungen usw. Die Forschungseinrichtungen spielen die wesentliche Rolle. Wenn man eine Gelehrtenakademie ist, muss man sich von solchen Überlegungen verabschieden und sich arbeits- und projektbezogen ausschließlich an hervorragenden wissenschaftlichen Köpfen orientieren. Stichwort Arbeitsakademie.

STANDARD: Was hieße Arbeitsakademie für die ÖAW konkret?

Mittelstraß: Arbeitsakademie sein heißt nicht, in Konkurrenz zur universitären und außeruniversitären Forschung treten – da wird man immer der schwächere Part sein –, sondern sich seine akademiespezifischen Aufgaben selbst suchen. Das scheint mir ohnehin die Zukunft der Akademien zu sein. Es hat ja nicht nur die österreichische Akademie der Wissenschaften bestimmte Probleme, wenngleich die im Falle der ÖAW wegen ihrer Forschungsträgereigenschaft sehr spezifische sind. Die Akademien sehen sich allgemein vor die Frage gestellt: Was sollen sie heute noch zwischen den Universitäten und den außeruniversitären Forschungseinrichtungen leisten? Was rechtfertigt ihre weitere Existenz?

STANDARD: Was ist Ihre Antwort auf diese Fragen?

Mittelstraß: Meine Vorstellung ist, dass die Akademien der Zukunft der Ort sein sollten, an dem die Wissenschaft über sich selbst nachdenkt – über ihre Theorien und Methoden, quer durch alle Disziplinen. Sie sollte nachdenken über die institutionellen Formen von Wissenschaft, zum Beispiel über die ja auch nicht unproblematische institutionelle Unterscheidung zwischen Universitätsforschung einerseits und Forschung an außeruniversitären Einrichtungen andererseits. Die Akademie sollte es als ihre Aufgabe gegenüber sich selbst, gegenüber der Gesellschaft und gegenüber der Politik sehen, entsprechende Themen aufzugreifen und zu bearbeiten. Also Selbstreflexion der Wissenschaft in Wissenschaftsform. Das leisten im Moment weder die Universitäten noch die außeruniversitären Forschungseinrichtungen, aber das könnte und sollte eine Akademie leisten.

STANDARD: Gibt es internationale Vorbilder für Akademien als so einen Ort der Selbstreflexion der Wissenschaft?

Mittelstraß: Vielleicht am ehesten noch die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW), die Nachfolgerin der vormals Preußischen Akademie der Wissenschaften, die wiederum 1972 in Akademie der Wissenschaften der DDR umbenannt worden war. Hier wird diese Diskussion schon lange geführt. Die Vorgeschichte ist interessant, weil die BBAW unter anderem an die Auflösung der DDR-Akademie anschließt. Die war so wie die ÖAW Gelehrtengesellschaft und Institutsträgerin, natürlich sehr stark orientiert am osteuropäischen, speziell am russischen System. Die Forschung war das Spezifikum dieser Art von Akademie, sie fand nicht in den Universitäten, sondern in den außeruniversitären Einrichtungen statt, und das waren im Wesentlichen Einrichtungen der Akademie. Nach dem Ende der DDR stellte sich die Frage: Was machen wir aus der eingestellten DDR-Akademie und ihren Forschungsinstituten? Was sollten wir anders machen, wie entwickeln wir die Idee der Akademie weiter?

STANDARD: Was hat man gemacht?

Mittelstraß: Man hat sich entschieden, dass es keine eigenen Forschungsinstitute geben wird und dass sich diese Akademie – auch wenn das eine noch nicht abgeschlossene Diskussion ist – nicht als Konkurrenz zur Universität oder zu außeruniversitären Forschungseinrichtungen versteht. Sie sucht sich vielmehr ihre besonderen Aufgaben im Sinne der genannten Selbstreflexion der Wissenschaften. Das ist ganz wichtig in einer Gesellschaft, die so wissenschafts- und technologiegestützt ist wie die moderne Gesellschaft.

STANDARD: Wie würden Sie die Aufgabe der Akademie zum Beispiel jetzt in der Pandemie definieren? In Deutschland hat sich die Leopoldina mit eigenen Empfehlungen, die von der Politik und in den Medien auch breit diskutiert wurden, eingebracht und war sehr präsent – anders als die ÖAW. Da traten öffentlich fast nur ein paar Repräsentanten einiger Frontrunner-Forschungsinstitute auf. Hätte sich die ÖAW als Akademie da auch stärker einbringen sollen?

Mittelstraß: Da geht es um das Thema Politikberatung – und die ist aus der Perspektive der Wissenschaft ein äußerst schwieriges Geschäft. Man könnte das so zusammenfassen: Die Wissenschaft soll praktisch sein, also praktische Probleme auch aus gesellschaftlicher Perspektive lösen, ohne selbst politisch oder ein Teil des politischen Systems zu werden. Das ist ein Balanceakt, der sehr schwierig ist. Die leitenden Ideen von Wissenschaft sind nach wie vor, wenn auch ein bisschen emphatisch formuliert, Wahrheit und Objektivität – und die der Politik sind eben Macht und Wirksamkeit. So etwas kommt schlecht zusammen.

Das eigentliche Problem aber sehe ich darin, wenn man dabei auch noch an eine Institutionalisierung der wissenschaftlichen Politikberatung denkt. Und hier kommt die Leopoldina ins Spiel. Dass sich Akademien wissenschaftsorientiert zu brennenden gesellschaftlichen Problemen äußern, ist, denke ich, normal oder sollte normal sein. Die Frage ist nur, ob sie sich dabei, vor allem unter finanziellen Gesichtspunkten, in ein Abhängigkeitsverhältnis begeben sollten. Und da sehe ich große Probleme mit der Leopoldina. Hier wurde aus einer Art Bringschuld, an die die Wissenschaft ja auch immer erinnert wird, nämlich mit ihrer Arbeit auch der Gesellschaft zu dienen, praktisch ein Vertragsverhältnis, das wiederum dann zu großen Schwierigkeiten führt, wenn die Finanzierung der Akademie von der Erfüllung entsprechender Vertragsverpflichtungen abhängt. Sie wird in einer bestimmten Weise finanziert, weil sie diese vertragsmäßige Bindung hat.

Hier verliert die Wissenschaft in einem wesentlichen Sinne ihre Selbstständigkeit, weil sie sich dann auch zu Dingen äußern muss, die nicht auf ihrer Agenda stehen oder zu denen sie möglicherweise gar keine eigene Expertise besitzt. Mein Vorschlag war immer: keine Institutionalisierung der Politikberatung, sondern das angelsächsische Modell.

STANDARD: Was beinhaltet es?

Mittelstraß: Die Institution eines "Science Advisor". Da tritt ein Wissenschafter oder eine Wissenschafterin, den oder die sich die Politik sucht, gewissermaßen aus dem System der Wissenschaft in das System der Politik über und berät diese. Das waren und sind meist großartige Wissenschafter und Wissenschafterinnen. Sie können und sollen nach wie vor aus der Perspektive der Wissenschaft sprechen, aber nicht im Namen der Wissenschaft. Das halte ich für eine bessere Lösung.

STANDARD: Weil?

Mittelstraß: Ich mag das Wort Politikberatung nicht. Politikberatung machen ja alle möglichen Einrichtungen: Beratungsgesellschaften, Standesorganisationen, Unternehmensverbände usw. Wir reden aber davon, ob auch die Akademie so tätig werden sollte. Wohl nicht. Es gibt sicherlich immer ungewöhnliche Situationen, in denen man erwarten muss, dass sich auch eine Institution wie die Akademie zu ihnen äußert. Aber das sollte man unterscheiden vom akademischen Tagesgeschäft. Was die Akademien mit ihren wissenschaftlichen Kompetenzen leisten können, ist und sollte Gesellschaftsberatung sein. Sie werden ja auch, wie die Wissenschaft insgesamt, von der Gesellschaft alimentiert. Aber nicht Politikberatung, was dann nebenbei ja auch immer Parteienberatung ist.

STANDARD: Was halten Sie von der "Klassengesellschaft" in der ÖAW? Es gibt wirkliche Mitglieder, es gibt Ehrenmitglieder, es gibt korrespondierende Mitglieder im Inland und solche im Ausland. Dann gibt es noch die zwei Klassen in der Gelehrtengesellschaft und daneben die Junge Akademie. Ist das eine sachlich sinnvolle und gerechtfertigte Klassifizierung?

Mittelstraß: Ich plädiere für eine klassenlose Akademie. Für eine Gelehrtenakademie in dem Sinne, dass man einfach nach den besten wissenschaftlichen Köpfen sucht, ganz egal, wo sie disziplinär verortet sind. Das betrifft wieder die Aufgaben, die ich für eine moderne Akademie sehe. Die meisten Akademien, so wie wir sie kennen, bilden in ihrer Klassenstruktur praktisch die Fakultätsstruktur der Universitäten ab, die selber problematisch ist. Da steht die österreichische Akademie schon viel besser da, denn sie hat nur zwei Klassen. Die Berlin-Brandenburgische hat fünf, die Leopoldina vier mit insgesamt 28 disziplinär bestimmten Sektionen! Man sollte sich ernstlich überlegen, sich von dieser überkommenen Struktur zu lösen.

STANDARD: Es gibt dann ja noch innerhalb der Klassen unterschiedliche Mitgliederkategorien.

Mittelstraß: Das halte ich in der Tat auch für ein Problem der ÖAW, insbesondere wenn es um die korrespondierenden Mitglieder im Inland geht. Diese Mitgliederstruktur ist schwer verständlich und sieht immer so aus, als ob es Mitglieder zweiter Klasse gibt. Das wiederum darf nicht sein, entweder man ist Mitglied oder nicht. Der Status der korrespondierenden Mitglieder im Ausland ist dagegen schon eher zu rechtfertigen, weil man in diesem Falle nicht so am Leben einer Akademie teilnehmen kann wie inländische Mitglieder. Aber auch da stellt sich mittlerweile natürlich ein Fragezeichen. Die korrespondierenden Mitglieder wurden erfunden, als das Reisen noch schwierig war und man tatsächlich im wörtlichen Sinne nur korrespondierend am Leben der Akademie teilnehmen konnte. Das ist heute anders mit Internet und schnellen Reiseverbindungen. Trotzdem würde ich sagen: Schütten wir das Kind nicht mit dem Bade aus. Mag es auch weiterhin die korrespondierenden Mitglieder im Ausland geben, nur ob es korrespondierende Mitglieder im Inland geben soll, ist doch sehr die Frage.

STANDARD: Und die Junge Akademie?

Mittelstraß: Da muss man noch einmal genau hinschauen, wie selbstständig sie wirklich ist, damit nicht auch dort passiert, was ich bei den korrespondierenden Mitgliedern im Inland sehe, dass sie sozusagen Mitglieder zweiter Klasse oder zumindest nur Mitglieder auf Zeit sind. Dann sollte man sie zwar mitfinanzieren, am Leben der Akademie teilhaben lassen und sie fördern, wo immer es geht, aber sie muss selbst absolut selbstständig sein. (Lisa Nimmervoll, 15.3.2022)