Die Philosophin Sonja Riegler beschäftigt sich mit Wissen und Unwissen.

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Je stärker die Gesellschaft wissenbasiert ist, desto mehr wird Unwissen zum politischen Problem. Ob es um die Pandemie oder den Klimawandel geht – Lösungen und Fortschritt stehen oft unbegründete Zweifel und um sich greifender Irrtum im Weg. Das hat mittlerweile auch die Philosophie erkannt: Hatte sie sich lange nur für die Gewinnung von Wissen interessiert, hat sie sich unter der Überschrift der "Epistemologie der Ignoranz" in den vergangenen Jahren verstärkt dem Nichtwissen und den damit verbundenen politischen Fragen zugewandt.

"Ignoranz ist eine soziale Praktik"

"Ignoranz ist dabei nicht einfach die Abwesenheit von Wissen", sagt die Philosophin Sonja Riegler, die zum Thema an der Universität Wien promoviert. Vielmehr handle es sich um "eine soziale Praktik, mit der oft repressive politische Interessen verfolgt werden". Ignoranz sei in diesem Sinne nicht nur das Ergebnis unabsichtlicher Irrtümer oder naiven Aberglaubens. Vielmehr werde sie oft von mächtigen Akteuren gezielt erzeugt und sei damit sowohl Folge als auch Mittel von Unterdrückung und Diskriminierung.

In ihrer Doktorarbeit will Riegler diese politische Dimension des Nichtwissens ins Auge fassen, indem sie unterschiedliche soziale Mechanismen identifiziert, die es erzeugen und verbreiten. So entstehe Ignoranz etwa dadurch, dass bestimmten Personen Wissen abgesprochen und ihr Zeugnis nicht ernst genommen werde, etwa wenn die Gewalterfahrungen von Frauen verharmlost würden. Von solcher identitätsbezogener Ignoranz unterscheidet Riegler interessegeleitete Formen, etwa wenn Tabak- oder Ölkonzerne mit gekaufter Scheinforschung zur Sicherung ihrer Profite Zweifel an wissenschaftlichen Erkenntnissen schüren.

Differenzierte Beurteilung

Allerdings müsse die Beurteilung des Nichtwissens differenziert ausfallen. Es gelte zu unterscheiden, ob Ignoranz das Ergebnis von mangelndem Bildungszugang oder diskriminatorischer Vorurteile sei.

Mit ihrer Forschung möchte Riegler auch ein soziales Engagement wahrnehmen. Philosophie könne auf gesellschaftliche Debatten einwirken und die Welt ein Stück besser machen – dadurch etwa, dass sie Konzepte bereitstelle, mit denen Menschen ihre Situation besser verstehen könnten. Oft würden Marginalisierten die gedanklichen Mittel vorenthalten, um ihre eigene Unterdrückung adäquat zu begreifen – ein Zustand, den Miranda Fricker mit dem Konzept der "hermeneutischen Ungerechtigkeit" beschrieb.

Feministischer Ansatz

Als Fallbeispiel von Ignoranz will Riegler die Erfahrungen von Arbeitsmigrantinnen zu Gehör bringen, die im Selbstbild Österreichs bislang kaum eine Rolle spielen. Dass sie sich für einen feministischen Zuschnitt entschieden hat, führt die gebürtige Grazerin auf die Bestärkung durch weibliche und queere Vorbilder im stark von Männern dominierten Fach zurück.

Neben ihrer Mutter, einer Philosophielehrerin, nennt sie inspirierende Kolleginnen an der Uni und die engagierten Dozentinnen an Pariser Universitäten, die sie während längerer Studienaufenthalte auf die politische Erkenntnistheorie aufmerksam machten: "Solche Vorbilder haben mir klar gemacht, dass feministische Fragestellung ernste, ‚harte‘ Forschungsthemen sind." (Miguel de la Riva, 23.3.2022)