Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wendet sich am Mittwoch per Videoschaltung an beide Kammern des US-Kongresses.

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Man kann die Liste als ein demonstratives Überschreiten roter Linien lesen, von roten Linien, die Joe Biden im Ukrainekrieg zog. "Eine direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland ist der dritte Weltkrieg", hatte der US-Präsident erst vor wenigen Tagen erklärt und mit dem schnörkellosen Satz begründet, warum er nicht bereit ist, im Konflikt mit Wladimir Putin ein Risiko einzugehen, das er für unkalkulierbar hält. 15 Abgeordnete des amerikanischen Kongresses, sieben Demokraten und acht Republikaner, unter ihnen Veteranen der Kriege im Irak und in Afghanistan, setzen andere Akzente. Nach ihrer Ansicht legt sich das Weiße Haus eine so große Zurückhaltung auf, dass es letzten Endes nur dem russischen Präsidenten nütze. In einem offenen Brief appellierten sie an Biden, die Ukraine auch militärisch stärker als bisher zu unterstützen.

Strategischer Vorsicht

Was folgte, war eine Liste all dessen, womit man die Streitkräfte des angegriffenen Landes ohne Zeitverzug ausrüsten möchte. Über die Stinger-Luftabwehrraketen und Javelin-Panzerfäuste hinaus, die die USA bereits schickten. Im Kern sind es Waffen sowjetischer Bauart, den Ukrainern vertraut, zu liefern aus osteuropäischen Nachbarländern.

Explizit genannt werden Boden-Luft-Raketen des Typs S-300 sowie Flugzeuge, die Su-25 und die MiG-29. "Wir fordern Sie dringend auf, den Deal möglich zu machen", heißt es in Bezug auf die MiG-Kampfjets, die Polen der Ukraine auf dem Umweg über die US-amerikanische Luftwaffenbasis Ramstein zukommen lassen wollte, ehe Oval Office und Pentagon rotes Licht signalisierten. Jake Sullivan, Bidens Sicherheitsberater, hatte es, nüchtern wie ein Buchhalter, mit einer Kosten-Nutzen-Rechnung begründet: Nach der ergebe es keinen Sinn, Flugzeuge von Nato-Stützpunkten aus in den ukrainischen Luftraum fliegen zu lassen. Es war die Umschreibung strategischer Vorsicht, des sprichwörtlichen kühlen Kopfes.

Drängen auf Flugverbotszone

Der Brief aus dem Repräsentantenhaus wirkt da fast wie eine Retourkutsche. Ohnehin ist nicht zu erwarten, dass das Thema MiG-Lieferungen schon vom Tisch wäre. Gleiches gilt für die Flugverbotszone, die Biden aus Furcht vor einer unkontrollierbaren Eskalation entschieden ablehnt, ohne dass die Debatte darüber bereits beendet sein dürfte. Am Mittwoch wendet sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Videoschaltung an beide Kammern des Kongresses. Niemand auf Capitol Hill kann es auch nur annähernd mit den Popularitätswerten des ukrainischen Präsidenten aufnehmen, und sollte Selenskyj in seiner Rede erneut auf eine No-fly-Zone drängen, dürfte dies auch im Parlament ein Echo haben.

Umfragen zufolge halten drei Viertel der Amerikaner die Einrichtung einer solchen Zone für angemessen. Auch wenn die politische Klasse es mehrheitlich anders sieht, der Druck der Öffentlichkeit bleibt. Womöglich wird er, allein schon angesichts der schrecklichen Folgen russischer Luftangriffe auf ukrainische Wohnviertel, eher noch wachsen. Damit einher geht ein zunehmend kämpferischer Ton auf dem Kapitolshügel Washingtons – über Parteigrenzen hinweg.

Abgeordnete schärften ihr Profil

Jackie Speier, eine Demokratin aus der Demokraten-Hochburg San Francisco, seit 14 Jahren Abgeordnete, spricht von Putins "teuflischem Versuch eines Genozids", den man nicht tolerieren dürfe. "Wir werden in der Ukraine einen Völkermord erleben, wenn wir nicht endlich unsere eigenen roten Linien ziehen." Speiers Parteifreundin Amy Klobuchar, im Senat eine gewichtige Stimme, seit sie als Präsidentschaftskandidatin des Jahres 2020 mit Achtungserfolgen ins Rampenlicht trat, vermeidet zwar jede direkte Kritik an Biden, plädiert aber ebenfalls dafür, die Ukraine mit Kampfflugzeugen zu versorgen.

Es müssten nicht unbedingt die MiG-29 sein, um die es so viel Streit gegeben habe, wirbt sie für einen zweiten Anlauf. Rob Portman, ein altgedienter Senator aus Ohio, von den innenpolitischen Ansichten her moderat konservativ, schärft sein Profil, indem er klarer Kante gegenüber dem Kreml das Wort redet.

Putins Pokerbluff

Putin beschwere sich doch sowieso schon über alles, was ihm der Westen entgegensetze, sagte er, nachdem er sich an der polnisch-ukrainischen Grenze umgesehen hatte. Auch die Wirtschaftssanktionen habe Putin als kriegerischen Akt bezeichnet, so wie er die bisherige Militärhilfe Washingtons als Drehen an der Eskalationsspirale charakterisierte.

Jetzt stehe die These im Raum, dass Flugzeuglieferungen einen dritten Weltkrieg auslösen, spitzt Portman es zu. "Ich weiß nicht, warum das stimmen soll", was daran aus russischer Sicht schlimmer sein sollte als der Transfer von Kampfhubschraubern in die Ukraine, abgewickelt im Januar, direkt aus den USA. Im Grunde gibt der Senator aus dem Mittleren Westen zu verstehen, dass man nicht hereinfallen möge auf Putins Pokerbluff. Im Weißen Haus scheint es momentan keinen zu geben, der sich auf das Spiel am Glückstisch einlassen würde. (Frank Herrmann, 16.3.2022)