Aus Legosteinen baute Ai Weiwei das Foto nach, das er bei seiner ersten Verhaftung 2009 aufnahm und auf Social Media teilte. 2011 saß er 81 Tage lang in Haft. 2015 konnte er seine Heimat China verlassen und lebt seitdem in Europa.
Foto: Ai Weiwei / Lisson Gallery

Ai Weiwei musste sich nie auf die Suche begeben. Das Material für seine Arbeit war immer einfach da – er dokumentierte, zerstörte oder verwandelte es nur. Stets aber machte der bekannteste Künstler und Aktivist Chinas seine Arbeiten und Recherchen als Kunstwerke oder über das Internet zugänglich. Sei es Chinas Kulturrevolution, die Inhaftierung von Julian Assange, Zensur oder die Flüchtlingskatastrophe in Europa.

Er begreift sich als Bote und macht humanitäre Katastrophen und Verletzungen der Meinungsfreiheit sichtbar. Als Sprachrohr solidarisiert sich der 2015 vor dem chinesischen Regime nach Europa geflohene Exilant (aktuell lebt er in Portugal) mit Vertriebenen weltweit.

In seiner bisher umfassendsten Retrospektive begeben sich nun die Werke des Künstlers auf die Suche: Die Ausstellung "In Search of Humanity", die ab heute, Mittwoch, in der Albertina modern in Wien zu sehen ist, folgt den Spuren der Menschlichkeit und fragt sich an manchen Stellen, wo diese denn geblieben sei.

Die Aktualität des Titels ist dabei frappierend, die Themen Krieg und Flucht sind allgegenwärtig im Werk von Ai Weiwei. Bei der Pressekonferenz und in vielen Interviews im Vorfeld der Schau verurteilte er den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und warnte vor der Brüchigkeit von Demokratie und Frieden.

"Dropping a Han Dynasty Urn", 1995.
Foto: Ai Weiwei Studio

Mittelfinger und Mao

Wie als Statement prangen gleich im ersten Hauptsaal die ausgestreckten Mittelfinger des Künstlers. In der Fotoserie "Study of Perspective" richtet er diese auf bekannte Gebäude und entlarvt sie so als Symbole politischer oder kultureller Macht. Das erste Bild entstand 1995 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Darüber bildet eine Leuchtschrift das Wort "FUCK". Die Besonderheit der mit etwa 140 Werken wirklich umfangreichen Ausstellung ist der Blick auf die Anfänge des 64-jährigen Künstlers in den 1980er-Jahren in New York.

Der Einfluss von Kunstströmungen wie des Dadaismus sei essenziell gewesen, stellt der Gastkurator Dieter Buchhart fest, der die Ausstellung gemeinsam mit Elsy Lahner konzipierte. Insbesondere die radikalen Ansätze von Marcel Duchamp beeinflussten den Künstler nachhaltig – das Readymade wurde zur konzeptionellen Grundlage für Ai Weiweis Kunst.

Nachdem er anfänglich auch malte – wie großflächige Gemälde von Mao Zedong beweisen, die Andy Warhols Motivik zitieren –, begann sehr früh das Objekt (neben der Sprache) die größte Rolle im Werk des Künstlers zu spielen: "Duchamp hatte das Fahrrad-Rad. Warhol hatte das Mao-Bild. Ich habe ein totalitäres Regime. Das ist mein Readymade." In diesem Gedanken verflicht der Künstler in Arbeiten wie "Shovel with Fur" die Geschichte Chinas mit seiner persönlichen: Der Spaten, den Ai mit Fell überzog, erinnert an seinen Vater, den bekannten Dichter Ai Qing, der in seiner politischen Verbannung Latrinen mit einer Schaufel reinigen musste.

"Study of Perspective – Eiffel Tower", 1999.
Foto: Mischa Nawrata / Ai Weiwei

Kulturrevolution bis Schwimmwesten

Speziell auf die Gewalt und Vernichtung während der Kulturrevolution Chinas nimmt Ai Weiwei oft Bezug. In einer bekannten Aktion lässt er eine 2.000 Jahre alte Urne der Han-Dynastie fallen und zerstört sie so bewusst – welche Bedeutung und welchen Wert hat kulturelles Erbe?

In Ai Weiweis Metamorphosen wird bereits Vorhandenes wie Möbel, Fahrräder oder Schwimmwesten zu zweckentfremdeten Installationen verbaut oder in seine Einzelteile zerlegt. Jeder noch so kleine Winkel wird mit Bedeutung aufgeladen. Gekonnt reflektiert die Ausstellung die Verbindung zwischen Kunst und Aktivismus. Zwischen den raumeinnehmenden Installationen, großformatigen Lego-Bildern und zahlreichen Vitrinen laufen die dokumentarischen Videos wie "Human Flow" oder "Coronation".

Ausschlaggebend für den politischen Aktionismus des Künstlers war das fatale Erdbeben 2008 in Sichuan, bei dem über 5.000 Schüler und Schülerinnen ums Leben kamen. Ai Weiwei legte in seinen Recherchen die vertuschten Baumängel, die Korruption seitens der Behörden und die Anzahl der Todesopfer offen und machte sie auf seinem Blog publik.

"S.A.C.R.E.D. (i) Supper", 2013.
Foto: Ai Weiwei Studio and Lisson Gallery

Überwachung 24/7

Diese dissidente Haltung führte zu einer ersten Festnahme 2009 und schließlich zu seiner Inhaftierung 2011, die Ai Weiwei später in der Arbeit "S.A.C.R.E.D." festhielt. Sechs Schaukästen zeigen den Alltag der 81 Tage langen Haft. Der Künstler wurde rund um die Uhr von zwei Beamten überwacht: beim Essen, beim Schlafen und selbst auf der Toilette. Auch die begehbare, detailgetreue Zelle ist in der Schau ausgestellt. Die beklemmende Realität, auf die hier aufmerksam gemacht wird, kumuliert in einer sehr dichten Bespielung der zentralen Ausstellungssäle. Die vom Künstler gestalteten poppigen Tapeten leisten ihren Beitrag, die Materialvielfalt ist fast überwältigend.

Ai Weiweis Skandal-Nachstellung des gestrandeten syrischen Buben Aylan Kurdi von 2018 sowie echte Rettungsringe und eine Aufladestation aus einem Flüchtlingslager am Ende der Schau funktionieren als Spiegel der aktuellen Situation. Als bewusste Konfrontation des Künstlers folgen sie seinem Credo: "Wenn du wegschaust, machst du dich zum Komplizen." (Katharina Rustler, 15.3.2022)