Neben der Vorbereitung für die Matura hilft dieser junge Mann in Wien beim Zusammenstellen der Willkommenspäckchen.

Foto: Andy Urban

Einen Viererpack Manner-Schnitten pro Sackerl?", fragt eine Freiwillige in der kurzfristig eingerichteten Fluchthilfezentrale in der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien. "Ja, alle vier", sagt der junge Mann, der eigentlich gerade für seine Matura lernt, aber jetzt Willkommenssackerln für geflohene Jüdinnen und Juden aus der Ukraine vorbereitet. Er füllt gerade Desinfektionsmittel in kleine Flaschen. In jedes Sackerl kommt auch eine SIM-Karte, ein Stadtplan auf Iwrit, verschiedene Broschüren und FFP2-Masken im ukrainischen Blau-Gelb. Für jene, die mittellos ankommen, gibt es auch eine finanzielle Starthilfe. "Sie sollen sich nicht alleingelassen fühlen", sagt ein Helfer, "sie sind Teil einer Gemeinde."

Jede zweite Familie ohne Vater

Neben dem Maturanten und der Pensionistin hilft am Montagvormittag auch eine Lehrerin zwischen ihren Unterrichtsstunden beim Packen. An einem Computer neben ihr sitzt ein Mann und sieht die Namen derer durch, die schon da sind. Es sind rund 500. Bis zu 1000 werden es nächste Woche sein, viele sind noch auf dem Weg. Auch beim Transport hilft die IKG, die selbst bisher rund 8000 Mitglieder hatte. "Jede zweite Familie kommt ohne Vater aus der Ukraine, es sind sehr viele Kinder dabei, auch Schwangere", erzählt der Mann. Die meisten kommen aus Odessa, Kiew und sehr viele aus Dnipro. Für viele ältere Bettlägerige wäre die mehrtägige Flucht mit langen Wartezeiten an den Oblastgrenzen zu viel gewesen. Sie bleiben zurück.

An einem Extratisch sitzt ein Mann, der schon vor Jahren von Kiew nach Wien kam. Vor ihm liegen Listen, in denen jene Familien farblich markiert sind, die in einem von vier Hotels in Wien untergebracht wurden, und jene, für die man schon Wohnungen fand.

Miriam und ihre Kinder sind in Sicherheit. Doch die Großeltern blieben in der Ukraine.
Foto: Andy Urban

Eigentlich ist er Geschäftsmann, aber seit zwei Wochen hauptsächlich Fluchthilfekoordinator der IKG. "Ich hab sofort, als der Krieg ausbrach über Freundeskreise begonnen, Hilfe zu organisieren, mein Telefon läutete die ganze Zeit", erzählt er. Da habe ihn IKG-Präsident Oskar Deutsch kontaktiert und gebeten, es doch gleich für die IKG zu organisieren. Man begann mit vier Leuten, erzählt der Koordinator, der seinen Brotberuf derweil "auf Eis gelegt" hat, mittlerweile helfen 200 mit: Bei der Unterbringung, an den Hotelrezeptionen, oder sie nehmen selbst Familien bei sich auf. "Die Whatsapp-Gruppen läuten die ganze Zeit", erzählt die Lehrerin. "Jedes Problem wird gelöst", ergänzt die Pensionistin. Eine Familie hatte keinen Gebetsschal mit, eine Musikerin kein Keyboard, alles wurde aufgestellt.

Der Koordinator glaubt, dass die meisten der jüdischen Geflohenen hierbleiben wollen. Hier gibt es jüdische Schulen, Kindergärten und Sportvereine und eine russisch-jüdische Community, die den Ukrainerinnen bei der Kommunikation helfen kann.

Koscheres Essen und Kleidung

Koscheres Essen wird in verschiedenen Lokalen und Synagogen angeboten, und das psychosoziale Zentrum der IKG, Esra, hilft dabei, die Flucht psychisch zu verarbeiten. Pop-up-Shops für Kinder und Erwachsene bieten Kleidung und auch Kostüme an. Denn diese Woche wird auch Purim gefeiert, und da verkleiden sich die Kinder gerne. Eine Chance für ein bisschen Unbeschwertheit. Es wird auch eine eigene "Willkommens-Purimfeier" geben.

Auch Oskar Deutsch kommt – mit blau-gelber FFP2-Maske –, um sich Überblick zu verschaffen. Zu den in der Ukraine gebliebenen alten Frauen und Männern, die teilweise den Holocaust überlebt haben und nun wieder fliehen sollten, sagt er: "Wir versuchen, sie gemeinsam mit deutschen Gemeinden sicher herauszubekommen."

"Es ist schwer zu erklären", erzählt Miriam wenig später im Foyer eines Hotels, wo derzeit Jüdinnen und Juden untergebracht sind, "aber manche Menschen sind so mit ihrem Geburtsort verbunden, dass sie nicht gehen können." So gehe es ihren Großeltern. Doch sie selbst und ihre fünf Kinder haben die Flucht aus Dnipro geschafft. Die zwei ältesten Söhne sind bei einem Rabbiner in Düsseldorf, die drei Kleinen sind mit ihr in Wien.

Yanika ist in der Nacht um 3.30 Uhr im selben Hotel angekommen. Mit ihrer elfjährigen Tochter Yeva und ihrem Hund. Sie hat kaum geschlafen und war mehrere Tage auf der Flucht – und doch strahlt sie. Denn sie ist auf dem Weg, in der Stadt ihren Sohn zu treffen. Er studiert in Wien, und sie hat ihn seit Monaten nicht gesehen.

Yanika freut sich (mit Tochter Yeva) auf das Wiedersehen mit ihrem Sohn, der in Wien studiert.
Foto: Andy Urban

Yeva schaut daneben erfreut auf ihr Handy: Sie hat gerade erfahren, dass ihr Klassenvorstand in Wien ist. Und eine Freundin ist ebenfalls in Sicherheit.

Hotel mit Arztzimmer

Nur als Yanika von ihrem Mann erzählt, klingt sie ernster. Er musste bleiben, weil er im wehrfähigen Alter ist. "Ich hoffe aber, er kommt nicht zum Zug", sagt sie.

Dorit Muzicant erklärt Yanika auf Russisch Organisatorisches, bevor sie dem STANDARD das Hotel zeigt. Auch Muzicant hat ihren Beruf als Journalistin vorübergehend hintangestellt, um die Organisation im Hotel zu übernehmen. Das Haus schloss 2020 wegen Corona und musste nun wieder flottgemacht werden. Im Parterre wurde ein Ärztezimmer eingerichtet, im Frühstücksraum Fleisch- und Milch-Tische nach koscheren Regeln mit Zetteln markiert. Im Foyer gibt es eine Spielecke.

Studierende aus New York

Das Freiwilligenteam vor Ort ist bunt gemischt: Sophie von den Jüdischen österreichische HochschülerInnen, Maria, eine Ukrainerin, die in Wien studiert und kurzerhand ins Hotel zog, um zu helfen, ein Pensionist, der alles vom Neonröhren- bis zum SIM-Karten-Tausch beherrscht, und zwei Frauen, die schon bei der 2015 gegründeten Initiative Shalom Alaikum dabei waren. Damals halfen Jüdinnen und Juden den größtenteils muslimischen Flüchtlingen. Die Gruppe bekam 2019 den Bruno-Kreisky-Preis fu¨r Menschenrechte. "Das Netzwerk ist jetzt viel wert", sagt eine der zwei Frauen, nachdem sie das Foyer geputzt hat, "viele von damals helfen jetzt mit." Am Dienstag bekam das Team weitere Verstärkung: 20 Studierende der Yeshiva University New York kamen an.

Ein Bub namens Mendel streift derweil durch die Hotelgänge und sucht jemanden. "Wen denn?", fragt ihn Muzicant. "Den Maschiach", antwortet der Bub. Vielleicht kommt auch der Messias nach Wien. Mendel hält es offenbar für möglich. (Colette M. Schmidt, 16.3.2022)