Im Gastblog betrachtet der Geologe Thomas Hofmann "Rombo", den Roman von Esther Kinsky, von der wissenschaftlichen Seite.

Am Beginn naturwissenschaftlicher Forschung stehen Beobachten und Beschreiben. Esther Kinsky, Schriftstellerin und Übersetzerin, ist in ihrem Herangehen eine akribisch beobachtende Naturwissenschafterin: "Sanfte Hügel. Felder, Torfmoore in abgelegenen Senken, versprengte kalksteinige Karstauswüchse mit Eichenhainen, Kastanienbäumen, scharfem, dünnhalmigem Gras auf den Kämmen, die sich gebirglicher geben, als sie sind, doch einen Ausblick bieten: über das Hügelland, […]." 2020 bekam sie, zusammen mit Ulrike Draesner, den Deutschen Preis für Nature Writing. In "Rombo" schreibt sie über die Beben im italienischen Friaul von 1976.

Zitate großer Gelehrter

Der Roman ist in sieben Abschnitte gegliedert. Jeder besteht aus einzelnen literarischen Mosaiksteinchen. Meist sind sie mit den immer wiederkehrenden Namen von sieben Menschen, die das Beben, als Zeitzeugen er- und überlebt haben, bezeichnet. Kinsky wählt auch Pflanzennamen, oder andere, prägnante Bezeichnungen mit Lokalbezug, wie Sisma (ital. Erdbeben) oder Miniera (ital. Bergwerk). Letzteres bezieht sich auf Ölschiefervorkommen am Monte Plauris (1.958 Meter). Hier baute man, wie auch im nordtirolerischen Seefeld, dunkle Schichten im Hauptdolomit der Trias ab; man gewann Ichthyol.

Kinsky betrieb ein intensives Literaturstudium. Die Überschrift "Die Entstehung der Gebirge. Glaube I" führt in die Frühzeit der Geologie. Athanasius Kircher (1602-1680), deutscher Jesuit und Universalgelehrter, bildet in seinem monumentalen "Mundus subterraneus" (1678) das Erdinnere ab. Kinsky griff dieses barocke Bild auf: "Die Erde ist erfüllt von einem Zentralfeuer, das Materie schmilzt und durch die dünneren Stellen der Erdkruste austreibt."

Barocke Sicht der Welt von Athanasius Kircher im Jahre 1678.
Foto: GBA

Den sieben Abschnitten sind historische Zitate großer Gelehrter vorangestellt. Friedrich Hoffmann (1797-1836), deutscher Geologe, beobachtete in Italien vulkanische Phänomene und korrelierte Bebenstärke mit unterirdischem Grollen. "…dasselbe erzählt man auch von Calabrien, wo man diese gefürchtete Erscheinung il rombo nennt."

Dem mehrbändigen "Antlitz der Erde" von Eduard Suess (1831-1914), Begründer des Geologischen Instituts (1862) der Universität Wien, sind drei Passagen entnommen. Suess sah, dass seismische Bewegungen, die sich mit einem einzigen Schlag entladen, zu den Ausnahmen gehören. Viel häufiger sind "eine ganze Reihe von Erderschütterungen, mit oder ohne Begleitung von unterirdischem Getöse, von wechselnder Intensität." Stichwort Nachbeben.

Folgt man bei der Suche nach der Herkunft des unterirdischen Grollens der lokalen Überlieferung, nennt die Bevölkerung den Monte San Simeone (1.215 Meter) nahe Venzone. "Dem Berg schreibt man in den schweifenden, schwankenden, immer wieder erzitternden Erzählungen vom Erdbeben den Ursprung des Rombo zu." Hier wohnt und grollt ein Fabelwesen; der "Orcolat, das Ungeheuer Erdbeben von 1976."

Erinnerungen und Schicksale

1976 waren Anselmo, Toni und Silvia Kinder. Olga, Gigi Lina und Mara ein wenig älter; Jugendliche oder junge Erwachsene. Sie alle sind omnipräsent, begleiten durch das Buch mit ihren Erinnerungen. Anselmo, der kleine Mann mit den weißen Haaren, ist heute Gemeindearbeiter. "Nach dem Erdbeben war alles in einem Riesendurcheinander. Wir hatten ein Auto, darin schliefen die Kinder. … Ich lag im Auto und stellte mir vor, ich wäre wirklich tot." Olga realisierte bald die einschneidenden Konsequenzen: "Ich glaube, beim Anblick der Veranda habe ich begriffen, dass nie wieder etwas so sein würde wie früher. Ich habe es gespürt."

Gigi hadert mit der Erinnerung: "Wer wäre man denn, wenn man alles vergäße? … Man hat keine Macht über die Art von Erinnerung." Tonis Gedankenwelt erinnert an einen Film: "In meinem Kopf sind all diese Bilder, aber sie ziehen zu schnell vorbei, um sie zu erzählen. Oder zu beschreiben." Mara weiß, wie wichtig vergessen ist: "Der Kopf würde uns ja platzen ohne das Vergessen. Und das Herz auch." Ist es bei Lina Vergangenheitsbewältigung oder Sentimentalität? "Ich rede gern von früher. Von meinen Erinnerungen." Silvia spricht über die Septemberbeben. "Das zweite große Beben kam am Mittag. … Ich weiß nicht mehr, was ich gerade machte, ich glaube, ich war draußen im Hof. … Gottseidank ist es Tag, hab ich gedacht, das weiß ich bis heute." "Aber dann kam es wieder. Im September war es. Es fing erst leicht an, im Morgengrauen, … Zwei oder drei Tage vergingen. Dann, mittags, wieder so ein tiefes Grollen." Erinnert sich Gigi.

Die Septemberbeben – zwei tote Geologen

Diesem mittäglichen Grollen folgte abermals ein Beben, das wie vielte es seit Mai war, wissen nur die Seismologen. Am 18. Juni zog in Wien der Direktor der ZAMG (Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik), Heinz Reuter, eine Zwischenbilanz. Er nannte 966 Tote und "mehrere hundert Nachbeben". Viele waren auch in Österreich zu spüren, einige richteten Schäden an. Rund 1.600 Meldungen, Wahrnehmungen der Bevölkerungen, waren an die Adresse der ZAMG gerichtet worden. Reuter resümierte zufrieden: "Die Direktion der Zentralanstalt dankt allen, die die Arbeit des Erdbebendienstes unterstützt haben, recht herzlich und bittet um weitere, allfällige Mitarbeit."

Karte der Friauler Beben vom 15. September 1976.
Foto: ZAMG

Mit den Septemberbeben hatte niemand gerechnet, auch nicht Riccardo Assereto, Geologieprofessor in Mailand und sein Sohn Andrea. Und auch nicht Giulio Pisa, Geologieprofessor aus Bologna. Die drei hatten sich am 15. September aufgemacht, um in der Region Gesteinsserien zu studieren. Am Monte Bivera (2.474 Meter), zu Mittag ist er dann passiert, der dreifach tödliche Steinschlag. Vierzig Jahre und zwei Tage später gab es eine Gedächtnisveranstaltung mit Exkursion. Am 17. und 18. September 2016 ging man von Sauris in Friaul Julisch-Venetien unter dem Motto "Per queste aspre montagne – Omaggio a Giulio Pisa e Riccardo Assereto", auf Deutsch "Für diese schroffen Berge", abermals ins Gelände, wie Geologen zu sagen pflegen. Diesmal gab es kein unterirdisches Grollen.

Beobachtungen versus gemessene Realität

Die Erdbeben des Raumes Friaul gehören zu den wissenschaftlich gut erforschten Beben. Kaum waren die ersten Erdstöße verstummt, begannen Geophysiker und Seismologen mit Messungen, Italiener, wie Österreicher, um Fakten zu sammeln. Doch zunächst zur Bebenchronologie. Am 6. Mai 1976 um 20.59 Uhr gab es ein katastrophales Beben im Raum Gemona. Eine Minute später folgte das tödliche, nahezu alles vernichtende Hauptbeben. Im Epizentrum mit Intensivitäten von neun bis zehn nach der zwölfstufigen MSK-Skala, benannt nach Sergei Medwedew, Wilhelm Sponheuer und Vít Karnik. Die Skala basiert auf realen Zerstörungen als Gradmesser, ohne Berücksichtigung von Seismografen. Der Wert 9 steht für: einstürzende Wände und Dächer sowie Erdrutsche. Freilich ist die Bauart der Gebäude ein wesentliches Kriterium. Die Realität im Friauler Raum war vielerorts eine Stufe höher: "Einsturz vieler Gebäude; Spalten im Boden".

Seismogramm vom 15. September 1976 (Conrad-Seismograf) an der ZAMG.
Foto: ZAMG

Die Werte 9 oder 10 hatten damals weder Anselmo, Olga, Gigi, Toni, Mara, Lina oder Silvia gekümmert. Zerstört war zerstört. Obwohl die beiden überaus starken Beben Mitte September Intensitäten mit messbaren Magnituden von 5,9 und 6,1 hatten, waren die zweiten Zerstörungen relativ betrachtet gering. Die Maibeben hatten schon fast alles zerstört. Wichtiger war, dass die Alpini (= italienische Gebirgsjäger) kamen. Sie "brachten Decken und Essen und Spürhunde, falls es noch Verschüttete gab", heißt es im Buch.

Plattentektonische Ursachen

Vierzig Jahre nach dem Beben, die Häuser sind längst wiederaufgebaut, erklären die Geophysiker und Seismologen der ZAMG die "folgenreichste Naturkatastrophe Italiens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts" in zwei Sätzen: "Die tektonische Ursache des Erdbebens ist auf eine Verschiebung der Adriatischen Mikroplatte in Richtung Europäischer Kontinentalplatte mit einer Geschwindigkeit von bis zu zwei Millimeter pro Jahr zurückzuführen. Das europäische Krustenmaterial mitsamt den überlagerten tektonischen Decken wird dabei auf die Adriatische Platte überschoben."

Geologisch, sprich zeitlich, wie auch räumlich in großen Maßstäben betrachtet, ein völlig normaler Vorgang. Dass endogene Kräfte Kontinentalplatten verschieben, prägt – seit Millionen von Jahren – unsere Erde. Ebenso wie exogene Kräfte, Wind und Wetter, kontinuierlich dem Planeten zusetzen und ihn wortwörtlich aufreiben. Wenn sich Kräfte mit einem Schlag entladen, Gebäude wie Kartenhäuser einstürzen, Menschen sterben, zu Tal donnernde Felsmassen die Landschaft neu formen, fällt es – in menschlichen Dimensionen betrachtet – schwer, von normalen Vorgängen zu sprechen. (Thomas Hofmann, 18.3.2022)