Noch wirkt das Leben in Lwiw weitgehend normal – nur die Sandsäcke erinnern daran, dass Krieg ist.

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Knapp 50 Ukrainer sitzen in dem Reisebus Richtung Lwiw. Dort wird nun verstärkt Kleidung in den Nationalfarben angeboten.

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In polnischen Grenzstädten wie Korczowa oder Medyka (Bild) sind in den letzten Wochen abertausende Flüchtlinge angekommen. Sie kommen mit Bussen an, die letzten Meter zum Grenzübergang muss man zu Fuß zurücklegen.

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Im Keller eines Bierlokals wird Angela Merkel mit Hitlers Außenminister verglichen ...

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... Plakate warnen vor den russischen Invasoren.

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Der Reisebus schiebt sich durch die Dunkelheit Ostpolens. Vorbei an Tarnów, Rzeszów, Jarosław, immer der Grenze entgegen. Das Licht ist gedämmt. Auf den abgewetzten Polstern, die auf ein Baujahr in den 1990ern hindeuten, dösen knapp 50 Ukrainer vor sich hin. Der Bus und seine Fracht bewegen sich quasi antizyklisch: Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat die größte Flüchtlingswelle auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Die Passagiere, die am Nachmittag in Krakau in den Bus gestiegen sind, fahren ihr entgegen.

Hinten links im Bus sitzt Galina. Blaue Jacke, dünnes schwarzes Haar, die 70 schon überschritten. Während der Fahrt knetet sie ihre faltigen Hände. Will man von ihr wissen, warum sie zurück in die Ukraine fährt, ist das nicht so einfach. Galina spricht nur Ukrainisch. Es braucht Hände, Füße und die Hilfe anderer Fahrgäste. Sie hat früher in Polen gearbeitet und fährt immer wieder dorthin. Sie ist auf dem Rückweg in das Dorf im Südwesten der Ukraine, aus dem sie stammt. Warum bleibt sie nicht ganz in Polen? Galina lacht. "Ich bin zu alt, um die Ukraine zu verlassen."

Mit großen Taschen

In Polen gibt es schon länger eine große ukrainische Community. 2018 wurde sie auf zwei Millionen geschätzt. Es sind vorwiegend Studenten und Arbeitsmigranten. Seit Ausrufung der "Volksrepubliken" 2014 und dem darauffolgenden Krieg kam noch mal eine beträchtliche Fluchtbewegung aus der Ostukraine hinzu. Die meisten Menschen in dem Bus, mit denen man reden kann, wohnen in Polen und fahren zu ihrer Familie in die Ukraine. Ihre Taschen sind groß und schwer, für viele ist es offensichtlich ein längerer Trip.

Es ist circa 19 Uhr, der Bus nähert sich dem Grenzübergang Korczowa und fährt langsam an einem stehenden Hilfskonvoi vorbei. Unzählige Kleinlaster mit Hilfsgütern, geschmückt mit der ukrainischen Flagge und der Flagge ihres Herkunftslandes, warten darauf, kontrolliert zu werden.

Der Bus kommt zum Stillstand, Pässe werden eingesammelt. Eine Stunde Warten auf polnischer Seite, 500 Meter Fahrt, eine Stunde auf ukrainischer. Wo man hinwolle, fragt die Grenzerin den einzigen Nichtukrainer im Bus. Nach Lwiw. Wie fast alle hier.

Relative Ruhe

Von der Grenze sind es noch etwa anderthalb Stunden Fahrt durch die Dunkelheit nach Lwiw, im Deutschen auch Lemberg genannt. Der Krieg begrüßt einen auf den Einfahrtsstraßen. Checkpoints mit Sandsäcken und Panzersperren schützen die Stadt, Soldaten winken die Busse durch. Kommt man nachts an, empfängt einen eine fast gespenstische Leere. Zwischen 22 Uhr und 6 Uhr herrscht Ausgangssperre. Fast alle Menschen, die noch auf der Straße sind, sind schwerbewaffnete Sicherheitskräfte.

Tagsüber ist die Szenerie eine andere. Lwiw ist dann wieder die europäische Großstadt mit reicher Geschichte und einer Innenstadt mit Unesco-Welterbe-Status. Die Straßen zwischen den historischen Gebäuden mit Habsburger-Flair sind belebt, vor den Restaurants warten Trauben von Essenslieferanten mit ihren Fahrrädern. Die Geschäfte und Hipster-Cafés sind voll. Hier in der Innenstadt zeugen nur Details davon, dass die Situation alles andere als normal ist. Die Statuen an den Kirchen sind eingepackt, wichtige Gebäude mit Sandsäcken geschützt. Viele Fenster schmückt ein X aus Klebeband, damit sie potenzielle Druckwellen besser überstehen.

Anlaufpunkt für Reporter

Lwiw ist die siebtgrößte Stadt der Ukraine und liegt ganz im Westen. Die Region ist vom Krieg bislang relativ verschont geblieben. Es ist eine Stadt, die dem Krieg nah ist, ohne (aktuell) wirklich im Kriegsgebiet zu sein. Sie dient deshalb als potenzielle Rückfallposition für die ukrainische Regierung und Armee, sollte Kiew fallen.

Schon jetzt ist sie Anlaufpunkt für Reporter aus der ganzen Welt. An einem sonnigen Nachmittag stehen überall in der Stadt kleine Teams und nehmen "Aufsager" auf, wie es im Mediendeutsch heißt: Auf dem Hauptplatz beschreibt ein Reporter von CNN Türk die Situation in die Kamera, zehn Meter weiter läuft ein Team des WDR vorbei. Das Leben hier sei den Umständen entsprechend normal, sagt auch die Frau an der Rezeption im Hotel beim Einchecken. Viel Spaß in Lwiw. Und ach ja: "Wenn Sie die Sirenen hören, müssen Sie in den Keller gehen."

Nächtlicher Alarm

Ob Lwiw weiter so eine verhältnismäßige Ruhe genießen darf oder ob es die Ruhe vor dem Sturm ist, kann niemand genau sagen. Die Stimmung schwankt zwischen angespannt und fatalistisch. Am frühen Sonntagmorgen führt Russland einen Raketenangriff auf einen Militärstützpunkt vor den Toren der Stadt durch. Es gibt mindestens 35 Tote und 134 Verletzte. Das ist noch immer knapp 30 Kilometer weit weg und kein ziviles Ziel. Viele Menschen schliefen einfach weiter. Aber es ist auch eine Warnung. Die Stadt, die dem Krieg aktuell nur nah ist, könnte bald wirklich von ihm erreicht werden.

Die erste Luftschutzsirene seines Lebens vergisst man nicht. Sie krabbelt die Wirbelsäule entlang und zieht sich tief in den Bauch. Die scheppernde Stimme aus den Lautsprechern, die überall auf den Straßen verteilt sind, heißt "Gefahr". Dafür muss man die Sprache nicht sprechen. Auf das Heulen der Sirenen, das mindestens einmal am Tag losgeht, folgen hektische, aber geordnete Szenen: Die Menschen greifen zu ihren Jacken, schließen die Geschäfte ab und strömen in den nächstgelegenen Keller. In der Kriegswoche drei ist das schon eingeübt: Jeder weiß, wo er hingehen muss. Wer es nicht weiß, reiht sich einfach ein.

An den Alarm gewöhnt

Im Keller eines Etablissements, das übersetzt "Bier Theater" heißt, warten am Sonntagvormittag knapp 200 Menschen auf das Ende des Alarms. Große Angst ist keine spürbar. Die Menschen unterhalten sich leise oder starren aufs Handy. Ein Vater reckt sein Kleinkind in die Luft, damit es die Lampe berühren kann. "Man gewöhnt sich daran", sagt Oleksandr. Der schlaksige Mann Anfang 20 lungert mit zwei Freunden auf den Holzstühlen herum. Mittlerweile reagierten sie gar nicht mehr auf jede Sirene.

Noch geht der Alarm in Lwiw dann los, wenn andere Ziele in der weiteren Umgebung beschossen werden, den Sirenen folgt also kein direkter Beschuss der Stadt. Die Menschen wissen das. Die meisten verlassen den Keller schon nach einer halben Stunde – was zu der surrealen Situation führt, dass einem auf der Straße Flyer in die Hand gedrückt werden, während im Hintergrund noch die Sirene läuft.

Züge nach Polen

Das Bahnhofsgebäude von Lwiw, erbaut 1904, liegt am Ende einer langen Straße. Der Bahnhof ist eine der zentralen Schleusen für Flüchtlinge gen Westen. Viele der mittlerweile knapp drei Millionen, die nach Polen oder noch weiter gegangen sind, kamen hier durch. Mehrfach am Tag fahren Züge nach Przemyśl, der ersten größeren Stadt auf polnischer Seite.

Es gibt Busse, die Menschen gratis an die Grenze bringen, und solche, die kostenpflichtig direkt in Städte wie Warschau durchfahren. Es ist voll und unübersichtlich. Die Schlangen sind lang, an den Engstellen staut es sich. Aber zu Szenen wie am Bahnhof Charkiw, wo Menschen in völliger Verzweiflung drücken, schieben und sich mit Gewalt in die Menge werfen, kommt es hier nicht, sagen die Helfer.

Bus zur Grenze

Der Bahnhof dient aber auch für die Bewegungen in die andere Richtung. Der durchtrainierte Mann Anfang 30 mit dem rasierten Schädel, der in der Mitte des Busses aus Krakau sitzt und "zur Front" will, nutzt Lwiw genauso als Ausgangspunkt wie die meisten ausländischen Freiwilligen. Auch die Waffenlieferungen der EU-Staaten müssen durch die Region, die seit jeher Ost und West verbindet und in der Vergangenheit schon mal zu Polen und der Habsburgermonarchie gehörte.

Vor dem Bahnhof in Lwiw haben Helfer ein provisorisches Versorgungslager aufgebaut. Eine Handvoll großer Zelte, aus denen Kleidung, Wasser und Essen verteilt wird. In der Dunkelheit wird es auch um den Bahnhof herum leer und still. Die meisten Flüchtlinge schlafen in umliegenden Quartieren oder bei Privatleuten. Lwiw ist auch nicht nur Durchgangsstation: In der Stadt mit einer Einwohnerzahl von 700.000 leben aktuell 200.000 Inlandsflüchtlinge. 1,85 Millionen Ukrainer gelten aktuell als IDP, Internally Displaced People. Im Hotel in Lwiw sind in einem Nebenraum Zusatzbetten aufgebaut, weil immer wieder schnell jemand eines braucht.

Der überwiegende Teil der Flüchtlinge will trotzdem in den Westen. In den ersten Tagen verlief die Flucht aus Lwiw noch chaotisch: Flüchtlinge wanderten die knapp 70 Kilometer zur Grenze und wurden auf polnischer Seite von Fluchthelfern aufgelesen. Mittlerweile gibt es auf beiden Seiten der Grenze funktionierende Systeme aus staatlichen Stellen, Privatleuten und NGOs. In Lwiw fahren von morgens bis abends Busse in Richtung Korczowa, des wichtigsten Grenzübergangs. Morgens dauert es eine halbe Stunde, bis man in einem Bus ist, nachmittags etwa doppelt so lange. Gebrechliche und Familien werden vorgereiht.

Abschiede

Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof stehen Reise- und Nahverkehrsbusse. Letztere fahren bis auf den letzten Stehplatz gefüllt. Oben die Menschen, zu ihren Füßen all das Gepäck, das sie tragen können. Die Stimmung ist nicht so gedrückt, wie man es vielleicht erwarten würde. Zwar sind viele müde, meist weint irgendwo ein Kind oder ein Haustier in einem Tragekorb. Aber die Menschen skypen auch und lachen. Die Ukrainer sind bemerkenswert resiliente Menschen, insbesondere die Ostukrainer, die einen Großteil der Flüchtlinge stellen. Man erkennt sie unter anderem daran, dass sie sich auf Russisch bedanken, wenn man ihnen mit dem Koffer hilft.

"Was bringt es zu klagen?", fragt Julia, eine Frau in ihren 60ern. Ihre Enkelin Anna übersetzt für sie. Der Krieg sei für die Menschen in der Ukraine nichts Neues, er gehört seit 2014 dazu. Die Menschen im Osten das Landes kennen ihn direkt. Auch aus den Start-ups im Technologiezentrum am Rande von Lwiw gingen in den letzten Jahren immer wieder Mitarbeiter an die Front. Der Rest Europas nimmt erst jetzt wirklich Notiz von der Situation der Ukrainer, und das haben die Menschen nicht vergessen. Im Keller des "Bier Theaters" hängt eine Zeichnung von Angela Merkel an der Wand, auf der sie als "Frau Ribbentrop" bezeichnet wird – nach Hitlers Außenminister, der den Nichtangriffspakt mit Stalin verhandelte, der Letzterem die Annexion von Teilen Polens und der Ukraine ermöglichte.

Umkämpfte Gebiete

Man kann nicht nachempfinden, wie es ist, wenn im eigenen Land Krieg herrscht. Aber vielleicht muss man sich die Größe des Landes vergegenwärtigen, um ein klein wenig zu verstehen, warum es für die Menschen im Bus vom Anfang überhaupt nicht seltsam ist, weiterhin in die Ukraine zu fahren. Selbst für die, die nicht kämpfen wollen. Die Ukraine ist das zweitgrößte Land Europas, Österreich würde knapp siebenmal hineinpassen.

Die Bilder aus Kiew oder der Hölle von Mariupol sind furchtbar und grausam, die Kriegsverbrechen aufseiten der russischen Aggressoren mittlerweile gut dokumentiert. Aber der Krieg wird momentan um die Städte geführt, im Süden, Norden und Osten des Landes. Es gibt in der Ukraine, insbesondere auf dem Land, viele Gegenden, aus denen man noch nicht zwingend fliehen muss. Und Menschen fliehen nicht gern, auch wenn einem die Kommentare auf Facebook etwas anderes erzählen wollen.

Der letzte Kilometer vor dem Grenzübergang muss zu Fuß bewältigt werden, vorbei an einer Schlange an Autos. Ältere Frauen ziehen keuchend schwere Rollkoffer hinter sich her, Kinder halten ihr Kuscheltiere fest. Auf dem Kasten am Rand des Grenzpostens, in dem die Nagelsperrbänder lagern, steht ein Einhorn, als würde es auf die Rückkehr seiner Besitzer warten.

Tränen an der Grenze

Das Letzte, was man von der Ukraine sieht, ist eine langgezogene, hellgraue Halle, an deren Ende zwei Kabinen stehen. In den langen Schlangen vor den Kabinen, wo die Pässe kontrolliert werden, spielen sich emotionale Szenen ab. Viele Tränen werden vergossen. Männer bringen ihre Familien bis zur Grenze, umarmen sie, küssen ihre Frauen. Kurz vor der eigentlichen Kontrolle müssen sie umdrehen. Für männliche Ukrainer zwischen 18 und 60 besteht ein Ausreiseverbot.

Das ist auch einer der Gründe, warum Flüchtlingsfamilien in Lwiw bleiben. Nach der Passkontrolle treten die Menschen hinaus in die Sonne, ins Niemandsland zwischen Polen und der Ukraine. Hinaus aus einem Land mit unsicherer Zukunft, in dem einerseits seit langem Krieg herrscht und er doch auch gerade ausgebrochen ist. Mit Bewohnern, deren Mut und Widerstandskraft man nur bewundern kann.

Am Ende des Niemandslandes steht ein rotes Zelt, in dem freundliche, hilfsbereite polnische Soldaten warten, die den Menschen sofort ihre schweren Taschen abnehmen. Die Flüchtlinge werden später am Tag in Busse steigen, registriert und weiterreisen. In einen Teil von Polen, nach Deutschland oder wo immer sie Anknüpfungspunkte haben. In eine Zukunft, die so unsicher ist wie die ihrer Heimat. Glaubt Julia, dass sie in die Ukraine zurückkehren wird? "Ja", übersetzt ihre Enkelin. "Ich hoffe es zumindest." (Jonas Vogt aus Lwiw, 17.3.2022)