Russland akzeptiert die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nicht, für Opfer gibt es aber dennoch Möglichkeiten.

Illustration: Davor Markovic

Kurz bevor sich Russen und Ukrainer Anfang März zum zweiten Mal nach Kriegsausbruch an den Verhandlungstisch setzten, richtete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine emotionale Videobotschaft an Russland. "Ihr werdet uns alles ersetzen, was ihr der Ukraine angetan habt. In vollem Umfang", forderte Selenskyj. "Lernt die Wörter Reparationen und Kontributionen." Denn Kiew plane, jedes Haus, jede Straße und jede Stadt wieder aufzubauen. Kein Toter werde vergessen.

Seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar hat das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte den Tod von 780 Zivilpersonen dokumentiert. Die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher sein. Daran, dass russische Streitkräfte Kriegsverbrechen begehen, zweifelt kaum jemand mehr. Und auch der Sachschaden ist enorm: Der ukrainische Innenminister Denys Monastyrskyj geht schon jetzt von Kriegsschäden in der Höhe von hunderten Milliarden Euro aus.

In ihrem Kampf gegen Russland setzt die Ukraine neben militärischer Verteidigung und Diplomatie daher mittlerweile auch auf rechtliche Mittel. Bereits eine Woche nach Beginn des Angriffs richtete das Land einen Antrag an den Internationalen Gerichtshof (IGH) der Vereinten Nationen in Den Haag.

Am Mittwoch hat die Ukraine nun einen Teilerfolg errungen: Der Internationale Gerichtshof wies Russland in einer vorläufigen Maßnahme dazu an, die Kampfhandlungen zu stoppen. Ob sich die Ukraine auch im Hauptverfahren durchsetzen wird, bleibt offen.

Grenzen im Völkerrecht

Kann ein juristisches Vorgehen gegen Russland also tatsächlich Erfolg haben? Werden die Russen letztlich dazu verpflichtet, alle Kriegsschäden zurückzubezahlen?

"Staaten können vor den Internationalen Gerichtshof ziehen und dort Verletzungen des Völkerrechts geltend machen", sagt Astrid Reisinger Coracini, Völkerrechtlerin an der Universität Wien, im Standard -Gespräch. Völkerrechtsverletzungen eines Staates lösen unmittelbar dessen Pflicht zur Wiedergutmachung aus. Bestätigt der Gerichtshof einen Verstoß, kann er über Form und Höhe der Wiedergutmachung, einschließlich Schadenersatz, entscheiden.

Das Problem sei aber eine "ganz generelle Grenze im Völkerrecht", sagt Reisinger Coracini: Staaten sind internationalen Gerichten nur dann unterworfen, wenn sie zustimmen. "Und im aktuellen Fall haben weder die Ukraine noch Russland die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshof bedingungslos akzeptiert", sagt die Juristin.

Umweg für Ukraine

Die Ukraine hat daher einen kleinen "Umweg" gewählt, um Russland dennoch klagen zu können, erklärt Andreas Müller, Professor für Völkerrecht an der Universität Innsbruck. Russland hatte behauptet, dass in der Ostukraine ein "Genozid" stattfindet, und damit seinen Angriff gerechtfertigt. Die Ukraine will deshalb von der internationalen Richterschaft feststellen lassen, dass der Vorwurf Russlands haltlos ist, und stützt sich dabei auf die Völkermordkonvention, die beide Staaten unterzeichnet haben.

"Selbst wenn die Ukraine das konkrete Verfahren gewinnt, sehe ich aufgrund der Fallkonstellation wenig Möglichkeiten für Schadenersatz", sagt Reisinger Coracini. "Man wird sehen, was der Gerichtshof daraus macht." Auch bei einem juristischen Sieg stelle sich letztlich die Frage, ob Ansprüche gegenüber Russland durchsetzbar sind. Der IGH kann seine Urteile zwar mithilfe des UN-Sicherheitsrats vollstrecken, Russland hat dort allerdings ein Vetorecht.

Opferfonds des Strafgerichtshofs

Aus Sicht von Reisinger Coracini gebe es für Geschädigte aber dennoch zwei Möglichkeiten, ohne Zustimmung Russlands Ersatz zu bekommen: über den Opferfonds des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) und über russisches Vermögen im Ausland.

Russland ist zwar selbst nicht Teil des ICC, die Ukraine hat dessen Zuständigkeit nach der Annexion der Krim allerdings akzeptiert. Chefankläger Karim Khan hat daher bereits Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet. Sollten russische Verantwortliche gefangen genommen und an den ICC überstellt werden, könnten sich Opfer dem Verfahren anschließen und sowohl auf das Vermögen der Verurteilten als auch auf den Fonds des Gerichtshofs zugreifen.

Einer gegen alle, alle gegen einen

Die Ukraine selbst müsste für völkerrechtliche Gegenmaßnahmen natürlich nicht auf ein Urteil eines internationalen Gerichts warten. Sie darf auf ihrem Staatsgebiet schon jetzt russisches Vermögen beschlagnahmen und für den Wiederaufbau verwenden. Ob das auch für Staaten gilt, die nicht direkt an der kriegerischen Auseinandersetzung beteiligt sind, ist unter Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtlern umstritten.

Befürworterinnen und Befürworter argumentieren, dass Russland mit seinem Angriff das internationale Rechtsgefüge als Ganzes störe und damit eine schwere Völkerrechtsverletzung "erga omnes" – also gegen alle Staaten – begangen habe, sagt Reisinger Coracini. Unter dieser Prämisse könnte auch anderen Staaten ein Recht auf Gegenmaßnahmen zustehen. Russisches Vermögen, das aufgrund der Sanktionen ohnehin bereits eingefroren ist, könnte theoretisch also eingezogen und auch an die Ukraine überstellt werden.

Erste Beispiele gibt es bereits dafür: In London sollen Geflüchtete künftig in beschlagnahmten Villen von Oligarchen untergebracht werden. (Jakob Pflügl, 18.3.2022)