Fluten und Sedimente gefährden Dämme, wie hier in China, immer mehr. Ein Dammbruch könnte das Leben von Millionen Menschen gefährden.

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Es gibt viele Orte, die mehr Sicherheit ausstrahlen als der Mullaperiyar-Damm im Süden Indiens. Die rund 50 Meter hohe Staumauer ist gezeichnet von kleinen Rissen und Löchern. Britische Kolonialisten hatten die Mauer Ende des 19. Jahrhunderts anhand damaliger Baukenntnisse errichten lassen – Kenntnisse, die 126 Jahre später mehr als veraltet sind – und sahen eine Lebensdauer von lediglich 50 Jahren für den Damm vor.

Als wäre die veraltete Baustruktur nicht Gefahr genug, liegt er zudem in einem Erdbebengebiet. Schon 1979 und 2011 verursachten kleinere Beben Risse im Damm. Ein Beben der Stärke 6,5 oder mehr würde den Damm laut Seismologen einbrechen lassen. Auch deshalb hatten die Vereinten Nationen in einem Bericht im vergangenen Jahr gefordert, den Damm abzubauen, bevor er das Leben von mehr als 3,5 Millionen Menschen flussabwärts gefährdet.

Größte Gefahr in China und Indien

Geschehen ist bisher laut Experten kaum etwas. Genauso wenig wie bei hunderten anderen Dämmen auf der Welt, die ihre vorgesehene Lebensdauer längst überschritten haben. Die meisten von ihnen befinden sich in China und Indien. In China stehen 40 Prozent aller großen Dämme weltweit, mit einem Durchschnittsalter von 45 Jahren. In Indien sind 209 Dämme bereits älter als 100 Jahre. Das Alter allein wäre noch nicht das Problem, solange sie kontinuierlich renoviert würden – wofür es allerdings häufig an Kontrollen, Überwachung und Geld fehlt.

Als "tickende Zeitbomben" werden die Dämme deshalb von Expertinnen und Experten immer wieder bezeichnet. Zeitbomben, die fatale Folgen haben können, wie Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zeigen. Erst im vergangenen Jahr kamen bei einem Dammbruch im indischen Himalaya 200 Menschen ums Leben. Seit Jahren hatten Wissenschafterinnen und Wissenschafter vor der Gefahr in dem von Erdbeben, Fluten und Lawinen heimgesuchten Gebiet gewarnt. Ein Expertenbericht kam zu dem Ergebnis, dass im Vorfeld wichtige Maßnahmen, Erosionen im Einzugsgebiet des Damms zu verhindern, verabsäumt wurden.

Als in Uttarakhand in Indien im vergangenen Jahr Teile eines Gletschers in einen Fluss stürzten und eine Flutwelle auslösten, kam es zu einem Dammbruch, der 200 Menschen das Leben kostete.
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Klage gegen Konzerne

2018 brach ein maroder Damm im Pandschschir-Tal in Afghanistan nach heftigen Regenfällen im Sommer ein, tötete zehn Menschen und zerstörte rund 300 Häuser flussabwärts. Noch verheerender war der Bruch des Mariana-Damms in Brasilien 2015, bei dem 19 Menschen ums Leben kamen, mehr als 600 ihre Heimat verloren und ganze Ökosysteme mit verschmutztem Wasser vergiftet wurden. Die Reinigungsarbeiten dauern bis heute an. Mehr als 200.000 Menschen haben eine Klage in Höhe von 6,9 Milliarden US-Dollar gegen den australisch-britischen Rohstoffkonzern BHP eingereicht, der zur Hälfte hinter dem Minenkonzern Samarco steht, zu dessen Eisenerzmine der Staudamm gehörte.

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Der Bruch des Mariana-Damms im Jahr 2015 vergiftete beinahe die gesamte Umgebung mit dem kontaminierten Wasser des Absetzbeckens. Hunderttausende Menschen wurden von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten.
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Bau verlangsamt

Kontrovers waren Staudämme schon immer. Einerseits sollen sie die Umgebung mit Trinkwasser, Wasser für die Bewässerung und Strom versorgen und zugleich vor Hochwassern schützen. Andererseits zerstören sie ökologische Lebensräume und können bei einem Bruch zu enormen Schäden führen.

Nicht zuletzt deshalb sind einige Staaten und Unternehmen mit dem Bau von Großstaudämmen in den vergangenen Jahrzehnten etwas vorsichtiger geworden. Die meisten der heutigen Dämme wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren gebaut. In den vergangenen Jahren hat sich der Bau neuer Dämme verlangsamt und vor allem auf Länder wie China, Indien, Türkei und Äthiopien konzentriert.

Ein weiterer Grund für die Verlangsamung: Viele Orte, die sich gut für den Bau von Dämmen eignen, sind bereits verbaut. Staudämme durchtrennen mittlerweile den Großteil der weltweiten Flüsse. 2020 produzierte Wasserkraft ein Sechstel des weltweiten Stroms – womit sie nach wie vor die größte Erzeugerin CO2-armen Stroms ist. Zwar nehmen Solar- und Windenergie in vielen Ländern immer mehr an Fahrt auf, Wasserkraft wird von Befürwortern aber vor allem aufgrund ihrer Grundlastfähigkeit geschätzt: Das heißt, dass sie konstant Strom liefern kann und sich bei Bedarf leicht an- oder abschalten lässt.

Notwendig für Energiewende

Die Internationale Energieagentur sieht Wasserkraft deshalb als Grundpfeiler, um die Energiewende in den nächsten Jahren zu schaffen. Bis 2030 könnte Wasserkraft weltweit noch einmal um 17 Prozent wachsen. Gleichzeitig fehlt es bis dahin voraussichtlich an 170 Milliarden Dollar, um alle alten Wasserkraftwerke und Staudämme zu sanieren und modernisieren.

Um den Bau von Staudämmen und Wasserkraftwerken voranzutreiben, ziehen Baukonzerne und Regierungen zunehmend riskantere und ökologisch bedenklichere Standorte in Betracht, etwa im Himalaya, im Amazonas-Regenwald oder in von Erdbeben geprägten Gebieten. Neue Projekte übersteigen vielerorts die geplanten Kosten und Bauzeiten, vernachlässigen Umweltauswirkungen oder berufen sich laut Wissenschaftern auf veraltete Klima- und Umweltdaten.

Risiken durch Klimawandel

Das macht nicht nur veraltete, sondern auch neue Staudämme zur Gefahr. Studien zufolge passiert rund ein Drittel der Dammunfälle bereits in den ersten fünf Jahren eines neuen Damms. Gleichzeitig hat der Klimawandel schon jetzt viele Staudämme und Wasserkraftwerke nicht nur gefährlicher, sondern auch unwirtschaftlicher gemacht: etwa weil es zu viel regnet und Fluten, Erdrutsche und Erosionen die Staumauer beschädigen oder weil es zu wenig regnet und das Wasserkraftwerk kaum noch Strom produziert.

Die meisten großen Wasserkraftwerke befinden sich in Regionen, in denen Dürrephasen in den nächsten Jahrzehnten deutlich häufiger und länger werden. Viele der Kraftwerke, die vor allem von einer guten Regenzeit abhängig sind, bleiben oftmals hinter den Erwartungen bei der Stromproduktion zurück. Hinzu kommen mehr Sedimentablagerungen, die Turbinen beschädigen können und Stauseen auffüllen.

So produzierte beispielsweise das Belo-Monte-Wasserkraftwerk in Brasilien im vergangenen Jahr, das relativ trocken war, lediglich 3,6 Gigawatt statt der möglichen 11,2 Gigawatt an Strom. Zuvor wurde das Projekt während der Bauphase dreimal durch gerichtliche Entscheidungen vorübergehend gestoppt. 20.000 bis 40.000 Menschen mussten durch das Wasserkraftwerk umgesiedelt werden.

Politische Konflikte

Hinzu kommen oftmals politische Konflikte aufgrund größerer Staudämme und Wasserkraftwerke. Wie etwa durch den Grand Renaissance Damm (GERD) am Blauen Nil in Äthiopien. Seit Jahren fürchten Sudan und Ägypten, die flussabwärts vom Wasser des Nils abhängig sind, um ihre Wasserversorgung. Ägypten drohte Äthiopien zum Teil sogar mit militärischer Sabotage der Bauarbeiten.

Für Äthiopien bedeutet der GERD nationales Prestige und vor allem eine bessere Stromversorgung. Künftig soll das Wasserkraftwerk eine Leistung von fünf Gigawatt haben und 115 Millionen Menschen im Land mit Strom versorgen. Zudem argumentiert Äthiopien, dass auch Sudan und Ägypten von den konstanteren Wassermengen des Nils profitieren werden.

Ab jetzt gebe es nichts mehr, was Äthiopien stoppen könne, sagte Abiy Ahmed, Ministerpräsident Äthiopiens, vor kurzem bei der Eröffnung des GERD.

Vor wenigen Wochen ist bereits eine der insgesamt 13 Turbinen in Betrieb genommen worden. Der Konflikt, der auch auf eine ungleiche Verteilung der Wassernutzungsrechte aus der Kolonialzeit zurückgeht, geht aber weiter und ist nur einer von vielen, die sich in den nächsten Jahren, verstärkt durch den Klimawandel und das Bevölkerungswachstum in vielen Ländern, rund um die Nutzung von Wasser und Flüssen auftun könnten.

Mehr Geld und Kontrollen

Dass es auch anders gehen kann, zeigt etwa die "Nile Basin Initiative", der auch Ägypten und Äthiopien angehören. Der dahinterliegende Gedanke: Arbeiten die Länder zusammen, können Wasserkraftwerke und andere Projekte Vorteile für alle bringen. Sind die Staudämme zudem an den geeigneten Orten, ordnungsgemäß gebaut und überwacht, können sie laut Experten auch weit länger als ein Jahrhundert überdauern.

Damit das gelingt, bräuchten die meisten aber schon heute weit strengere Kontrollen und finanzielle Mittel für Reparaturen, sind sich Experten einig. Noch fehlen vielerorts die Kenntnisse und Technologien, große und veraltete Staudämme überhaupt wieder abzubauen. Doch das Thema drängt: Laut dem UN-Bericht wird bis 2050 mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung flussabwärts eines großen Staudamms aus dem 20. Jahrhundert leben. Die Sicherheit dieser Staudämme, sie wird damit zum Thema für alle werden. (Jakob Pallinger, 18.3.2022)