Die russische Youtuberin Wiktoria Terechina, auf Social Media als "minimalrussiangirl" bekannt, beklagt auch die offene Feindlichkeit gegenüber Menschen aus Russland.

Foto: Screenshot/minimalrussiangirl

Während die Augen der Welt derzeit vor allem auf die vielen flüchtenden Ukrainerinnen und Ukrainer gerichtet sind, drehen auch zahlreiche Russen ihrem Heimatland den Rücken zu. Während die einen vor fallenden Bomben flüchten, haben viele Teile der russischen Bevölkerung Angst vor ihrer eigenen Regierung bekommen. Darunter sind viele Menschen der Tech-Branche und auch Influencer, die über die Gründe ihrer Flucht öffentlich sprechen.

Mit offenen Augen

"Ich kann nicht mehr ignorieren, was rund um mich passiert." Die russische Youtuberin Wiktoria Terechina, auf Social Media als "minimalrussiangirl" bekannt, hat nach langem Zögern ihre Heimat zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter verlassen. Sie könne nicht mehr in einem Land leben, in dem Leute auf der Straße verhaftet werden, nur weil sie ein Schild in die Luft halten: "Wir haben bis zu dem Angriff auf die Ukraine geglaubt, es seien nur Drohgebärden unserer Regierung, um ihre Macht zu zeigen."

Es sei ihr ein Anliegen, über die Wahrheit zu sprechen, und das könne sie in ihrer Heimat nicht mehr tun, sagt Terechina. Sie wolle aber weiterhin auch die Perspektive der russischen Bevölkerung darstellen, um das teilweise falsch dargestellte Bild in manchen Medien zurechtzurücken. Große Teile der russischen Bevölkerung sind laut der jungen Frau seit Kriegsbeginn frustriert. Man gehe dem täglichen Leben nach, aber die Gedanken seien immer in der Ukraine. Ein Krieg gegen die eigenen Nachbarn, die eigenen Freunde sei für viele einfach nicht nachvollziehbar. Man sei sich in so vielen Bereichen ähnlich – dieser Krieg scheint so sinnlos, erzählt sie in einem über 30 Minuten langen Video.

Viele Russinnen haben Angst, in ihrer Heimat öffentlich gegen den Krieg zu protestieren.
Foto: APA/dpa/Kay Nietfeld

Die Flucht – derzeit wohnt sie in einem Hotel in Usbekistan – sei spontan gewesen. Sie habe nicht mal mehr abgewaschen, sondern einfach die wichtigsten Sachen eingepackt, einen Covid-Test für den Flug gemacht und sei dann losgefahren. Erst jetzt merke sie, dass ihre Kreditkarten im Ausland nicht mehr funktionieren und der Flug um ein vielfaches teurer war als noch vor ein paar Wochen. Die Entscheidung würde sie trotzdem nicht anzweifeln. Gerade sei sie mit dem zweiten Kind schwanger, da sei ein Leben in einem Land, in dem man Angst vor der eigenen Regierung haben müsse, nicht erstrebenswert.

"Ich habe immer gewusst, dass wir nicht wirklich die Freiheit haben, alles zu sagen. Aber jetzt sieht und spürt man es täglich", sagt sie. Die Zensur von inländischen Medien und das Blocken von ausländischen Social-Media-Plattformen seien ein Weckruf gewesen: "Ich kann in keinem Land leben, in dem Journalisten Informationen nicht teilen dürfen. Wo Stimmen nicht mehr zählen und man für das laute Aussprechen von Gedanken bis zu 15 Jahre ins Gefängnis wandern kann."

Sie sei weiterhin stolz, Russin zu sein. Der Hass im Netz habe sie aber überwältigt. Sie habe sogar den Channel-Namen geändert, weil sie Leute belästigt hätten, nur weil sie das Wort "Russia" im Namen hatte. Generell sei ihr aufgefallen, dass weltweit Russinnen offener Provokation und Beleidigungen ausgesetzt waren, nur aufgrund ihrer Herkunft. Das sei unfair und nicht nachvollziehbar. Man könne sich zudem nicht vorstellen, wie gespalten das Land selbst sei. Es gäbe natürlich zahlreiche Russen, die alle Schritte der Regierung unterstützen. Sie sei aber müde, mit diesen zu diskutieren – es bereite ihr zu viele negative Emotionen.

Leben in der Türkei

Ebenfalls aus Russland geflohen ist der App-Entwickler Sergej, der in einem Gespräch mit "Rest of World" seinen echten Namen nicht veröffentlicht sehen wollte. In seiner von Tech-Enthusiasten gefüllten Telegram-Gruppe, so erzählte er der Website, würden sich derzeit viele darüber unterhalten, in die Türkei zu flüchten. Kurz nach Kriegsbeginn sei er mit seinem ukrainischen Geschäftspartner nach Belgrad geflohen, wo sie die Situation neu bewerten wollen. Die Sanktionen gegen Russland haben Unternehmern wie Sergej das Leben stark erschwert. Ausländische Kunden können kein Geld mehr überweisen, große Tech-Firmen wie Apple oder Microsoft hätten sämtliche Aktivitäten in Russland abgebrochen.

Viele lokale Firmen würden gerade darunter leiden, dass viele Geschäftskunden sämtliche Aufträge storniert hätten. Zudem würde die russische Regierung sämtliche Online-Aktivitäten überwachen und kritische Stimmen mundtot machen. "Menschen in der IT-Branche, die ihre Arbeit vollständig online abwickeln, verlassen alle das Land", erzählt Sergej im Interview. "Wer das Land nicht verlassen kann, ist deprimiert und eingeschüchtert."

Tech-Riese Yandex verdient viel Geld außerhalb Russlands – in London startete man beispielsweise Ende 2021 den Lieferdienst für Lebensmittel Yango Deli.
Foto: JOHN SIBLEY

Obwohl die russische Regierung heimischen Tech-Konzernen vergangene Woche die Firmensteuer von drei auf null Prozent reduziert hat, ist die Branche aufgescheucht. Russlands größte Tech-Firma Yandex, die auch immer wieder als "Russlands Google" bezeichnet wird, organisiert laut israelischen Berichten gerade die Übersiedlung von rund 800 Mitarbeitern nach Israel. Viele andere Firmen wollen es Yandex gleichtun. Meist wird als Grund genannt, dass durch die weltweiten Maßnahmen für russische Unternehmen nicht nur jegliche Zusammenarbeit mit ausländischen Firmen gestoppt wurde, sondern der westliche Markt generell für Geschäfte geschlossen sei.

Russlands Antwort auf Instagram

Nachdem in Russland zahlreiche Social-Media-Dienste zuletzt gesperrt wurden, darunter Instagram, Facebook und Twitter, arbeiten die daheimgebliebenen Entwickler an lokalen Alternativen. Eine davon soll "Rossgram" werden, eine dreiste Kopie von Instagram. Bereits am 28. März soll die App online gehen und Funktionen wie etwa Crowdfunding oder Paywalls von Content-Schaffenden für bestimmte Inhalte unterstützen. Nachdem viele Influencerinnen zuletzt den Wegfall von Instagram sehr bedauert haben, hat man jetzt gute Argumente in russischer Hand, diese Content-Schaffenden zu Rossgram zu holen.

Auch in anderen Tech-Bereichen will sich Russland vom Westen und auch von China entkoppeln. So produziert die russische Staatsgesellschaft Rostec schon länger Smartphones unter dem Namen AYYA, Gazprom Media präsentierte kürzlich den Start seiner neuen Video-Sharing-Plattform Yappy – die russische Interpretation von Tiktok. (aam, 18.3.2022)